Johann Wolfgang von Goethe
Die Leiden des jungen Werther
Mit vier Illustrationen
Saga
Die Leiden des jungen WertherCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1774, 2019 Johann Wolfgang von Goethe und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726373103
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
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Noch einmal wagst du, vielbeweinter Schatten,
Hervor dich an des Tages Licht,
Begegnest mir auf neubeblümten Matten
Und meinen Anblick scheust du nicht;
Es ist, als ob du lebtest in der Frühe,
Wo uns der Tau auf einem Feld erquickt,
Und nach des Tages unwillkommner Mühe
Der Scheidesonne letzter Strahl entzückt;
Zum Bleiben ich, zum Scheiden du erkoren,
Gingst du voran und hast nicht viel verloren.
Des Menschen Leben scheint ein herrlich Los,
Der Tag, wie lieblich! so die Nacht, wie gross!
Und wir, gepflanzt in Paradieses Wonne,
Geniessen kaum der hocherlauchten Sonne,
Da kämpft sogleich verworrene Bestrebung
Bald mit uns selbst und bald mit der Umgebung,
Keins wird vom andern wünschenswert ergänzt,
Von aussen düstert’s, wenn es innen glänzt,
Ein glänzend Äussres deckt mein trüber Blick,
Da steht es nah, und man verkennt das Glück.
Nun glauben wir’s zu kennen! Mit Gewalt
Ergreift uns Liebreiz weiblicher Gestalt,
Der Jüngling, froh, wie in der Kindheit Flor,
Im Frühling tritt als Frühling selbst hervor,
Entzückt, erstaunt, wer dies ihm angetan?
Er schaut umher, die Welt gehört ihm an;
Ins Weite zieht ihn unbefangne Hast,
Nichts engt ihn ein, nicht Mauer, nicht Palast,
Wie Vögelschar an Wäldergipfeln streift,
So schwebt auch er, der um die Liebste schweift,
Er sucht vom Äther, den er gern verlässt,
Den treuen Blick, und dieser hält ihn fest.
Doch erst zu früh, und dann zu spät gewarnt,
Fühlt er den Flug gehemmt, fühlt sich umgarnt.
Das Wiedersehn ist froh, das Scheiden schwer,
Das Wieder-Wiedersehn beglückt noch mehr,
Und Jahre sind im Augenblick ersetzt;
Doch tückisch harrt das Lebewohl zuletzt.
Du lächelst, Freund! gefühlvoll wie sich’s ziemt:
Ein grässlich Scheiden machte dich berühmt,
Wir feierten dein kläglich Missg-schick,
Du liessest uns zu Wohl und Weh zurück;
Dann zog uns wieder ungewisse Bahn
Der Leidenschaften labyrinthisch an,
Und wir, verschlungen wiederholter Not,
Dem Scheiden endlich — Scheiden ist der Tod. —
Wie klingt es rührend, wenn der Dichter singt,
Den Tod zu meiden, den das Scheiden bringt!
Verstrickt in solche Qualen, halbverschuldet,
Geb’ ihm ein Gott, zu sagen, was er duldet.
Am 4. Mai.
Wie froh ich bin, dass ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz des Menschen! Dich zu verlassen, den ich so liebe, von dem ich unzertrennlich war, und froh zu sein! Ich weiss, Du verzeihst mir’s. Waren nicht meine übrigen Verbindungen recht ausgesucht vom Schicksal, um ein Herz wie das meinige zu ängstigen? Die arme Leonore! Und doch war ich unschuldig. Konnt’ ich dafür, dass, während die eigensinnigen Reize ihrer Schwester mir eine angenehme Unterhaltung verschafften, dass eine Leidenschaft in dem armen Herzen sich bildete? Und doch — bin ich ganz unschuldig? Hab’ ich nicht ihre Empfindungen genährt? hab’ ich mich nicht an den ganz wahren Ausdrücken der Natur, die uns so oft zu lachen machten, so wenig lächerlich sie waren, selbst ergötzt? hab’ ich nicht — O, was ist der Mensch, dass er über sich klagen darf! Ich will, lieber Freund, ich versprech Dir’s, ich will mich bessern, will nicht mehr das bisschen übel, das uns das Schicksal vorlegt, wiederkäuen, wie ich’s immer getan habe; ich will das Gegenwärtige geniessen, und das Vergangene soll mir vergangen sein. Gewiss, Du hast recht, Bester, der Schmerzen wären minder unter den Menschen, wenn sie nicht — Gott weiss, warum sie so gemacht sind! — mit so viel Emsigkeit der Einbildungskraft sich beschäftigten, die Erinnerung des vergangenen Übels zurückzurufen, eher als eine gleichgültige Gegenwart zu ertragen.
Du bist so gut, meiner Mutter zu sagen, dass ich ihr Geschäft bestens betreiben, und ihr ehestens Nachricht davon geben werde. Ich habe meine Tante gesprochen, und bei weitem das böse Weib nicht gefunden, das man bei uns aus ihr macht. Sie ist eine muntere heftige Frau, von dem besten Herzen. Ich erklärte ihr meiner Mutter Beschwerden über den zurückgehaltenen Erbschaftsanteil; sie sagte mir ihr Gründe, Ursachen und die Bedingungen, unter welchen sie bereit wäre alles herauszugeben, und mehr als wir verlangten. — Kurz, ich mag jetzt nichts davon schreiben; sage meiner Mutter, es werde alles gut gehen. Und ich habe, mein Lieber, wieder bei diesem kleinen Geschäft gefunden, dass Missverständnisse und Trägheit vielleicht mehr Irrungen in der Welt machen, als List und Bosheit. Wenigstens sind die beiden letztern gewiss seltener.
Übrigens befinde ich mich hier gar wohl. Die Einsamkeit ist meinem Herzen köstlicher Balsam in dieser paradiesischen Gegend, und diese Jahreszeit der Jugend wärmt mit aller Fülle mein oft schauderndes Herz. Jeder Baum, jede Hecke ist ein Strauss von Blüten, und man möchte ein Maikäfer werden, um in dem Meer von Wohlgerüchen herumschweben, und alle seine Nahrung darin finden zu können.
Die Stadt selbst ist unangenehm, dagegen rings umher eine unaussprechliche Schönheit der Natur. Das bewog den verstorbenen Grafen von M . . . . einen Garten auf einem der Hügel anzulegen, die mit der schönsten Mannigfaltigkeit sich kreuzen und die lieblichsten Täler bilden. Der Garten ist einfach und man fühlt gleich bei dem Eintritte, dass nicht ein wissenschaftlicher Gärtner, sondern ein fühlendes Herz den Plan gezeichnet, das seiner selbst hier geniessen wollte. Schon manche Träne habe ich dem Abgeschiedenen in dem verfallenen Kabinettchen geweint, das sein Lieblingsplätzchen war, und auch meines ist. Bald werde ich Herr vom Garten sein; der Gärtner ist mir zugetan, nur seit den paar Tagen, und er wird sich nicht übel dabei befinden.
Am 10. Mai.
Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den süssen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen geniesse. Ich bin allein, und freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die für solche Seelen geschaffen ist wie die meine. Ich bin so glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühle von ruhigem Dasein versunken, dass meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen