Peregrina. Utta Keppler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Utta Keppler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711730515
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Das tönte edel.

      So weit ging die Sage, die Justinus Kerner, da er ja am Weinsberg sein Anwesen hatte, aufgezeichnet hat; ihm selber ging es wohlig neben seiner selbstlosen, gutherzigen, grundgescheiten Friederike, die ihn »ertrug«, und das sei, schrieb er auf, mehr als das Tragen allein.

      Dort, nahe Weinsberg, unter den Rebhügeln, so erzählte also Justinus Kerner, logierte im Jahr 1815 der Zar Alexander, den man einen wunderschönen Mann nannte, da er ein weiches hübsches, fast weibliches Gesicht hatte, blonde Löckchen und eine gute Statur. Jedenfalls hatte er nichts von seinem seltsamen Vater, nicht einmal dessen verbeulte Stumpfnase.

      Seine Mutter war die Schwester des dicken Friedrich, der Württembergs erster König war und sein Land dank einem geschickten Frontwechsel verdoppelt hatte.

      Alexander litt unter der schlimmen Lage seines Landes, unter dem Mord an seinem Vater, unter der Ungewißheit seiner Abstammung. Er war fromm auf eine typisch russische Art, stark fühlend, mystisch gestimmt, den Zeichen und Symbolen, Wundern und Geschichten aufgeschlossen, die seiner Logik und sezierend-nüchternen Betrachtung zuwiderliefen; und beides warf ihn hin und her.

      Er hatte viel gelesen, hatte mit seinem Jugendlehrer La Harpe die Klassiker, oder was der so nannte, studiert, kannte deutsche und russische Literaten und Philosophen, aber eben hier, in Schwaben, war ihm der Dichter Hölderlin nahegekommen, da er durch Lauffen im Wagen gereist war und auf der Insel im Strom eine Weile gestanden hatte.

      Er ließ sich, so eilig er war, einen Band von Hölderlins Versen kommen, den ihm der Hausherr in Heilbronn vom Schulmeister besorgte, nicht ohne zu vermerken, daß selbiger Dichter in einer Art »holden Wahnsinns«, wie der Schulmann es nannte, in Tübingen vegetiere und manches hinterlassen habe, was verwirren könnte; trotzdem las Alexander (dem das Deutsche auch in seinen Nuancen vertraut war) die seherischen Sätze, empfand, von seiner schwäbischen Mutter geschult, den Klang, der mehr eingab als logischen Sinn und doch verständlich blieb für den, der sich ihm offen hielt.

      In einer Nacht, als er in seinem Quartier nicht schlafen konnte, nahm er so ein Bändchen vom Tisch unter der Lampe und las, und stieß erschrocken auf den Satz: „ … das meiste aber bewirkt die Geburt!“ »Das ist für mich, oh, das ist meins!« murmelte der Zar, und diesmal sprach er deutsch, wie er manchmal, im tieferen Nachdenken, deutsch philosophierte, russisch betete, französische Liebesbriefe schrieb.

      Er las das und empfand, daß es Fügung sein müsse, gerade ihm zugedacht, daß er in dem von Rauchschen Hause am Heilbronner Marktplatz wohnte, um hier zu finden, was ihn doch quälte.

      »Die Geburt …, weiß einer, woher er kommt, und ist doch für keinen so wichtig und entscheidend wie für einen Herrscher? Und kaum einem so unklar wie mir.« Der Vater, grübelte er, von dem ihm auch die mächtige Großmutter Katharina nie gesagt hatte, daß der vom Zaren Peter dem Dritten stamme, und keiner, ob vom Höfling Saltykow oder sonst einem der Großen am Hof! Nur von der Mutter kam königliches Blut, aber auch das war ja bloß ein neuerworbenes Königtum, das ihrem kurfürstlichen Bruder verliehen vom Eroberer Napoleon, seinem, Alexanders Feind, und von jenem erkauft durch List und Schacher mit der Preisgabe der Tochter; er wußte genug vom Heiratshandel zwischen dem Württemberger und Napoleons windigem Bruder Jérôme.

      »Aber die Mutter ist edel, ein Adel des Wesens, der Haltung – und aus dem alten herrschgewohnten Haus …«, sagte er sich, »und mir bleibt die Entscheidung unter ihren Augen, unter Rußlands erwartungsvollen Augen, unter Gottes Augen – Entscheidung über das heilige Moskau, über das Volk, für das ich Verantwortung trage …« Er kniete vor dem Bett auf den Boden, warf den Kopf in die Hände und spürte, daß er weinte. »Zuviel für einen Menschen, zuviel!«

      Zugleich beobachtete er sich selber und wußte, daß ihn seine Mutter und mehr noch die Großmutter, die starke Katharina, verachtet hätte und daß ihn auch der Hausherr so nicht hätte sehen dürfen.

      Es war der Kammerkosak, der im Vorzimmer gesessen, der den Kaiser aufstörte. Man habe unter ihm, im großen Saal, wo die Gendarmen noch immer wachten, um den hohen Gast zu beschützen, ein seltsames Wimmern gehört und gefürchtet, der Zar fühle sich nicht wohl, sagte der Adjudant, der hinter dem Leibdiener hereinsah. Alexander sprang auf.

      »Ich bin vollkommen gesund!« rief er laut.

      »Geh und schlafe!«

      Indem kam jemand die Treppe herauf. Der Kaiser, ärgerlich im Gedanken, daß man ihm seine Weichheit anmerken könnte, schlug die Tür hinter dem Kosaken zu und schloß ab, als schon zweifach trappelnde Schritte laut waren: Einer der Leibwächter und ein anderer, ein Hausdiener, die dann beide klopften, und – da nicht gleich geöffnet wurde – abwechselnd weiterpochten, leise und lauter. Alexander fragte unmutig, wer da sei. Als er’s gehört hatte, öffnete er und machte, mißtrauisch geworden, ein paar Schritte zurück ins Zimmer. Der Hausdiener, hinter dem auch noch der Hausherr stand, schob den Kosaken beiseite und meldete, eine sonderbare Dame wünsche den Herrscher aller Reußen zu sprechen, sie handle im Auftrag Gottes und lasse sich nicht abweisen … Sie komme vom Rappenhof, eine halbe Stunde von Weinsberg entfernt, und sie bäte dringend um Gehör … Der Herr Adjudant versuche sie aufzuhalten.

      Alexander spürte einen Anruf, den er erwartet hatte: Das mußte der Gottesbote sein, der Ratschluß, den er erhoffte. Aber zugleich empfand er das alte Mißtrauen, die Angst, in eine Falle zu geraten. Er lasse die Dame bitten, doch nicht ohne Zeugen, sagte er und verlangte ihren Namen. Es sei eine Frau von Krüdener aus dem Baltikum, hieß es.

      Und noch ehe Alexander dem Kammerkosaken befehlen konnte, daß er ihm die verwühlten Haare richte, wallte eine dunkelbraune Tüllwoge auf ihn zu, ein schwarzer Schleier wurde zurückgeschlagen, und ein blasses, hageres Gesicht mit umschatteten Augen kam ihm bedrängend nah.

      »O Heiliger Rußlands, Retter der Vaterländer, Begnadeter des Höchsten!« hauchte die Frau von Krüdener emphatisch und sank – nicht ohne den Faltenrock anmutig auszubreiten – auf den bettnächsten Sessel.

      Als erwünschter Zeuge hätte der Adjudant antreten sollen, aber der argwöhnte in der Dame, trotz ihrer Reife, eine der vielen Liaisons seines Herrn und bat um Dispens.

      Dem stimmte die Dame mit schwingender Stimme zu. Sie erinnerte den Zaren an ihre alte Bekanntschaft, die ihm allerdings nicht gegenwärtig war, und beschwor ihren längst von ihr getrennten Gemahl herauf, der als Gesandter Rußlands in Paris und Neapel gewesen war, zählte ihre Kinder und nicht zuletzt ihre zahlreichen Bücher auf und bekannte sich endlich zu ihrer Sendung, deren unausweichlicher Befehl dieser Besuch gewesen sei.

      Alexander hörte zuerst nur zu, dann, als die Besucherin doch fragte, ob sie seine Pläne gestört oder ihn aus dem Schlummer gerissen habe, ließ er sich, den Pelzrock öffnend, ihr gegenüber nieder und sagte leise, wie es seine zögernde Art war:

      »Sie haben mein Gebet unterbrochen, das mir Kraft von oben geben sollte. Ich habe um einen Rat gefleht …« »O Fügung! Fügung! Dem Himmel sei Dank!« keuchte Frau von Krüdener und strahlte auf. Eben das sei ihr befohlen in ihrer letzten Vision …

      Sie könne und dürfe nicht so geradewegs und obenhin beraten und führen, aber anklopfen und mit einer sanften Leuchte das Terrain sondieren, sagte sie bedeutsam, und sie sehe, wie bedrückt die kaiserliche Majestät im Augenblick sei, und fühle, daß solche Bedrückung nicht nur aus der Gegenwart komme …

      Auf diese geschickte Anspielung reagierte der Zar mit erschrockenem Kopfschütteln, und Frau von Krüdener wußte sofort, daß sie das Richtige getroffen, »ihn an seiner Achillesferse berührt« hatte, wie sie das bei sich selber nannte.

      Denn sie wußte aus ihrer Moskauer Zeit am Zarenhof – man hatte ihr, was sie nicht mitansah, oft genug erzählt –, wie allein das Kind Alexander gewesen, wie es die »alte Zarin«, Katharina, mit einer nahezu rasenden Begeisterung an- und eingenommen und seiner Mutter, der württembergischen Sophie, entfremdet hatte.

      Sie wußte von den Eskapaden und Umschwüngen des Vaters, des Zaren Paul, der sich vom Haß seiner gewaltigen Mutter verfolgt fühlte; von seiner Häßlichkeit, die sein Gesicht zu einer verzerrten Maske entstellte, von seiner panischen Angst vor Feinden und Attentätern,