Peregrina. Utta Keppler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Utta Keppler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711730515
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gönnte. Die vergitterten Fenster ließen nur ein gelbliches Licht ein, das alles veränderte, auch die Laken im Bett auf dem angeketteten Brett, die zerfurcht und zerwühlt waren, und das gedunsene Gesicht des Kranken, mit dem dicken Brustwickel oder was immer es war, den ihm der Doktor angelegt hatte, und das Wasser in der Schüssel auf dem Stuhl, in dem ein Lappen lag, und die Wand, an der die Fliegen krochen.

      »Nicht ganz – nicht ganz so …« murmelte der junge Mann, der da lag. »Nicht, wie ich’s tun sollte – ich lebe ja noch!« Er focht mit den Armen und stach mit der freien Hand, als hielte sie den selber entworfenen Dolch; die andere steckte in der Schlinge, die am Brustverband hing. Er streifte und stieß die Decke vollends weg, daß sie auf die Fliesen rutschte.

      »Da ist er – das Teufelsgesicht! Das sind die schwarzen Brauen, nah beieinander, die gelbe Fratze mit der Habichtsnase, das ewige Gelächel, ich habe alles zerfetzt! Und Blut, so viel Blut aus dem Schlafrock, ich hab es schon berechnet, daß er die Hände vor die tückischen kleinen Augen reißt – daß er die Brust freigibt, die ich treffen muß, die Lunge, die Seele, wenn er nur eine hat …«

      Draußen ging der Arzt auf und ab. Er verfluchte oft genug seinen Beruf; er sei ein mittelmäßiger Doktor, sagte man von ihm, daß er es nur bis zum Heiler der Verbrecher gebracht habe und zu mehr nicht, denn heilen dürfe er ja nur, was zum Siechtum verdammt sei, zum ungesundesten Hinvegetieren oder – wie dieser da, Sand – zum Tod. Einen hinhalten fürs Henkerbeil – dazu muß ein Arzt schon ganz abgestumpft sein, wenn er nur ein bißchen noch ein Mensch gewesen ist beim Antritt solchen Berufs.

      Freilich, der da drinnen ist auch eine gänzlich kranke Seele, sagte er sich, indes er im Schatten saß und wartete, bis der Schließer ihm eine andere Zelle aufmachte, in der ein alter Säufer saß, der seine Frau erwürgt hatte … Der da, Sand, war ein Auswuchs und Austrieb der verdrängten und unterdrückten Kräfte der Zeit, ein ausgewuchertes Geschwür falschen Christentums auch, das sich da Luft machte, Märtyrer und Opfer fehlgeleiteter Vaterlandsliebe – und ein Arzt, so er noch ein wenig Arzt ist, sollte für das Kranke auch da Verständnis und Geduld aufbringen, Gelassenheit und Eingehen und Mitleid …

      Er dachte darüber nach, was den jungen Menschen so voll Haß und Todesmut gepumpt haben könnte, er sah das vor sich wie eine gewaltsame Einflößung in eine wehrlose Seele – und lachte gleich wieder über seinen grotesken Vergleich. Kotzebue – schon der Name reizte die Jungen zum Hohn … Der Mann war zwielichtig – wie oft hatte er das gehört. Er war russischer Staatsbürger und hatte Besitzungen in Rußland, er war vom russischen Geschäftsträger beauftragt, über Strebungen, Strömungen, geistige Bewegungen in Deutschland – diesem durch die Napoleonkriege vollends undurchsichtig aufgewühlten, uneinsichtig brodelnden Gebilde – nach Petersburg zu berichten unter dem Gesichtspunkt, aufkeimende Richtungen, literarische und propagandistische, zu beobachten und auf ihre politische Wirkung hin zu untersuchen. Er war sogar vorgesehen als literarischer Kommissär für auswärtige Angelegenheiten, er hatte selbst vorgeschlagen, als Gesandter in Dresden in diesem Sinn zu wirken – »wer die Ereignisse voraussehen will, muß die bestimmenden Ideen kennen!« Unter den »bestimmenden Ideen« sah Kotzebue auch die neu aufgekommene Turnkunst, Jahns vaterländische Schöpfung, die ihm, dem Arzt, recht erfreulich und förderlich zu sein schien.

      Man wußte, wie bissig Kotzebue den »Turnvater« und die »heilige Turnkunst« verspottet hatte, man zitierte seine »Geschichte des Deutschen Reiches«: „Nun, in Gottes Namen, so turnt und kitzelt euch in dem Gedanken, daß ihr etwas Großes vollbringt. Man läßt ja so manchen Toren seines Weges schlendern, wenn es einem beliebt, sich bei den Beinen aufzuhängen.“

      Man wußte von Morddrohungen gegen den Spötter, dessen Schärfe der Gegenstand nicht rechtfertigte, man verbrannte seine Schriften, man warf ihm die Fenster ein. Ein Zettel lag vor seiner Tür: »… vielleicht wirst du selbst und nicht nur deine elende Schrift verbrannt …«, man nannte ihn einen »wiedergeborenen Teufel«.

      Der Doktor wartete immer noch, er sinnierte. Man sollte dem armen Kerl da drinnen eigentlich ein Pulver eingeben, daß er sanft und für immer einschliefe, ehe sie ihn auf dem Stuhl sitzend enthaupteten … warum nur waren die Jungen so absolut?

      Da kam der Wärter – eilig, erschrocken, mit einem bösen Grinsen um den Mund: der Trinker drinnen, den er habe waschen und zurechtmachen wollen für seinen, des Arztes, Besuch, habe sich erhängt – aus – nichts mehr zu machen … Der Doktor fand den Gefangenen tot.

      Er ordnete an, was nötig war und trat noch einmal bei Sand ein. Der saß auf der Pritsche und las in der Bibel. Er hörte kaum hin, was der andere sprach, begann endlich zu zitieren: „Christus, der ist mein Leben – Sterben ist mein Gewinn.“ Danach, doch getrieben von dem Wunsch, sich zu erklären, da ihm der Arzt fragend und bohrend seine Motive abzuhören suchte, sprach er von den Zitaten, die der Schriftsteller Luden in seinen Monatsrapporten, dem Burschenschaftsblatt, gebracht hatte – er redete fiebrisch aufgeregt, und manchmal sprudelte er fast unverständlich, und der Doktor – noch bedrückt vom Anblick des Selbstmörders – verstand nicht alles: daß Kotzebues Sekretär dies oder jenes in dem französischen Manuskript nicht habe lesen können und den Redakteur des »Volksfreund« deswegen gefragt habe; daß der sich die Notizen ausgebeten und heimlich Auszüge gemacht, daß der Sohn des Dichters Wieland daraus in seinem Blatt einiges Verfängliche abgedruckt habe … und Polemiken angehängt.

      Der Herr von Kotzebue zerrieb sich an so viel Intrigen, so sagte man, und wirklich bat er den russischen Gesandten um Versetzung nach Reval, auch wenn er dort weniger als in Weimar verdiene; er wich aus, er hatte berechtigte Angst, er zog nach Mannheim. Alexander von Rußland genehmigte das Gesuch – aber das hatte eine gute Zeit gedauert, und inzwischen schrieb der Student der Theologie Karl Ludwig Sand in sein Tagebuch: „Das Vaterland schafft Freude und Tugend – unser Gottmensch, Christus, unser Herr, er ist das Bild der Menschlichkeit, die ewig schön und freudig sein muß …“ Und gleich daneben schrieb er: „Wenn ich sinne, so denke ich oft, es sollte doch einer sich den Mut nehmen, dem Kotzebue oder sonst einem solchen Landesverräter das Schwert ins Gekröse zu stoßen …“

      Die drei oder vier Jahre, seit Sand tot sei, sagte man, habe sich sein Bild eher verklärt und vergrößert, und es gebe manche Studenten, auch solche, die inzwischen in Amt und Würden oder gar Pfarrherren seien, die noch ein blutgetränktes Taschentuch in einer Schatulle hätten, am Richtstuhl des Sand getränkt …

      Das Bild wurde Mörike quälend deutlich: Nach der Tat, als der Sand wie ein Wahnsinniger aus der Wohnung gerast war, hinter sich den Verblutenden mit den schreienden Frauen und Kindern, als er, Sand, sich den zweiten Dolch, den er entworfen und bestellt, in seine eigene Lunge gestoßen hatte – er spürte es kaum, wie er nachher berichtete –, als er draußen vor dem Haus hinfiel, in die Knie brach, vornübergebeugt und blutend sagte: »Gott sei gedankt – ich hab’s vollbracht!« – hatten ihn die Leute aufgehoben und weggetragen. Das wußte Maria von denen, die ihn fanden.

      Aber danach lag er wochenlang mit Schmerzen, fiebernd – und da hatte sie ihn besucht: Sie fand ihn halbschlafend und stöhnend, setzte sich aufs Bett, wußte selber kaum mehr, was sie tat, deckte ihn zu und drückte ihren Kopf an ihn – und so, wie in einer Totenhochzeit, blieb sie lang bei ihm, bis die Hausfrau hereinschlich und sie fortschickte.

      Mörike wehrte sich dagegen, alles zu glauben, er kannte indessen ihre sonderbaren »Zwischenreiche«, ihre phantastischen Visionen. Aber auch wenn sie sich die Szene bloß ausgedacht hatte, war’s ihm peinlich, es war ihm schrecklich und erschreckend. Er versuchte, sie zu wecken, zurückzuholen in ein beruhigendes friedliches Geviert, in eine ummauerte sichere Heimstatt; er fing an zu erzählen und sprach ihr wie einem Kind zu.

      Endlich ließ er sie los und stand auf; er sah, daß sie sich drehte, und merkte endlich, daß sie langsam zu sich kam. Erleichtert nahm er ihre Hand und fragte: »Ist’s vorbei? Das war doch nicht wirklich so?«

      Und sie antwortete mit ganz anderer Stimme und lachte dabei:

      »Ich hab’ geträumt, Eduard; hab’ ich denn geredet?« Sie war dann ruhig, sogar nüchtern, als sie von fern und im Abstand von den Feiern und dem Wartburgschwur der Burschenschaft sprach, von dem sie in früher Zeit durch Sand gehört habe.

      Er