Peregrina. Utta Keppler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Utta Keppler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711730515
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es nun System hatte oder wildwüchsig um sie hertrieb.

      Aus dem wuchernden Laubwerk brach eine helle Lücke auf, Lichtbündel, Sonnenbahnen, in denen Mücken tanzten, und zwischen dem winzig-blitzenden Gewirre schien es blau heraus, sommerlicher Azur, in dem gewölbte Wolkenberge schwammen, sich breit lagerten über den grauen, dunkler schattierten Felsbrocken, als wären’s ihre gemäßen Stühle.

      Die Burschen schwärmten, sangen schließlich, hieben mit Flitzgerten durch die Luft, sprangen den Hang hinunter zwischen kollernden Steinen und redeten Unsinn und dazwischen Lebensweisheiten, die sie aus ihren Schulstunden aufgenommen und hin- und herbedacht hatten, ahnungsvoll und kindlich und mit leuchtenden Augen.

      Man könnte sie jetzt reden lassen und »Mörike« und »Lohbauer« zueinander sagen, und sie beschreiben: Füllig und kräftig den einen mit wilden Haaren, die Lippen voll und rötlich glänzend; und feiner den anderen, mit hellen großen klaren Augen und einem Knabenschimmer um die hohe Stirn und etwas rührend Reinem im Gesicht.

      Vier Jahre sind vergangen seitdem. Aus dem Seminar, das noch viel klösterliche Disziplin und manchmal für die jungen Burschen unverständliche Strenge verlangt hatte, sind sie in den größeren Kreis der Universität umgesiedelt, auch in einen größeren Freundeskreis, in freiere Entfaltungen; aber darüber steht noch immer (und hier noch bewußter) die Stiftszucht im Blick auf die künftigen Pfarrherren, die als Vorbilder und lutherische Nachbilder herangezogen werden. In den Ferien fahren sie heim, die wenigsten leisten sich freilich einen Wagen und selten einer ein Pferd. Mörike ist nach Ludwigsburg gewandert, trifft da Freunde, sieht Mädchen, die ihm neu und wunderbar vorkommen, und Lohbauer nimmt ihn mit in die Wirtschaft des Helm Mergenthaler und zeigt ihm Maria.

      Das Licht über der Tischplatte flackerte im hängenden Leuchter. Alles war da – wie ein nächtlicher Melodienstrom – früheste Erinnerung und reife Ahnung, alle Sinne schlossen sich auf – Augen und Ohr, Gespür und Getaste – obwohl niemand ihn berührte, eine Wolke schien ihm um das Wesen zu schwellen, dunstig und verklärend, alle Töne, alle Gedanken, alle wehenden Bänder und webenden Rhythmen, und so – verzaubert, verschämt, verschreckt – zog er sich zurück, daß niemand seinen Augen ansehe, was er sah, und seiner Stimme anspüre, was sie zittern ließ. Er erstarrte bei ihrer Bewegung, dem stillen gesättigten Ausdruck, einer Wendung des Kopfes, des Halses, noch ehe sie ihr Gesicht preisgab, und in dem Nebel seiner Betroffenheit sprang ein funkelndes Leuchten über, das aus ihren Augen kam, und der Bursche neben ihm sagte: »Eduard, bist ganz weg auf ei’mal?«

      Das Mädchen lehnte sich an den Tisch, die bogig hochgesteckte Schürze trug sie wie einen Theaterumhang um die Hüften, die gefaltete Bluse und das schwarze Mieder waren sorgsam und genau und sauber wie aus einem Modellblatt, er merkte, daß sie sich ein bißchen wiegte, die Arme gekreuzt, und das lange lockere Haar zurückwarf, das ungebunden und ohne Kamm und Nadeln um das Gesicht fiel.

      Er schaute weg; das Gesicht wäre nicht zu beschreiben gewesen – kein Wort fiel ihm ein; und sonst hatte er für alles eine Chiffre, und damit bannte er, was ihn überwältigen wollte.

      Maria nahm die leeren Gläser vom Holztisch und wischte mit einem Tuch nach. Sie streifte seine Hand, die neben dem Glas gelegen hatte, und tat, als hätte sich der Lappen an seinem Ärmelknopf verhakt, faßte den Arm und nestelte am Saum, strich übers Gelenk und sagte: »Verzeihung«.

      Mörike saß steif und verstört dabei, drückte den Mund zu und die Augen, und als sie ihn losließ, stand er gleich auf und sagte, er wolle zahlen.

      2. Kapitel

      Spinnwebschaukel

      Als er sie wieder traf, fragte er, ob sie mit ihm durch die Dämmerung laufen wolle, ganz kurz und schnell, und gleich wieder umkehren. Es zog ihn zu ihr, und es graute ihm vor dem Zusammensein, er wollte sich sichern gegen irgendeine Lockung, die seine Grenzen überschreiten konnte.

      Sie kam dann, langsam trat sie aus der grauen Dunkelheit hinter den Büschen. Das Wort »gelassen« fiel ihm ein … Gelassen stieg die Nacht … War sie die Nacht? Gelassen … sie war so sicher, als täte sie etwas längst Eingeübtes, ganz Vertrautes, als wäre er ihr anheimgegeben, um genommen, gebettet, ganz überflutet und eingebunden zu werden.

      Später sah er sie beruhigter, er fühlte ihr »Gelassensein« wie eine gnadenvolle Macht, eine mütterliche Umwallung, viel stärker als er selbst, ein Schoß, ein Todesfluß; und danach kamen die kleinen goldzuckenden Wellen und Quellen, süßes Spiel, Sprudeln und Springen, aber das blieb an der Oberfläche, Schaum und Spiegelung. In der Tiefe, wo Zug und Strömung wirkten, war das Dunkle, die Nacht, das Anheimgegebensein, das unentrinnbare Auflösen und Mitströmen …

      Maria Meyer hatte schwarze umrandete Augen unter hochgeschwungenen Brauen, sie sang mit einer tiefen Altstimme, sie bewegte sich langsam wie eine Königin aus dem fremden Land, und sie verschloß sich unversehens, wenn sie sich wild und wirr und verwirrend verloren hatte, als wäre ein tobender Flußwirbel auf einmal in einer Untiefe verlandet.

      Anfangs sprachen sie nicht viel; dann verlangte der junge Student von ihr zu wissen, wer sie sei und was sie erlebt habe, woher sie diese hohe Gestalt habe und »die unergründlichen Augen« und solches mehr, wie Verliebte sich durchdringen und durchleuchten wollen und doch nicht ganz klar sehen möchten.

      Schließlich erzählte sie einiges Unzusammenhängendes, sie gebrauchte lateinische Wendungen und griechische Worte, Mörike hörte ihr erstaunt zu und fragte wieder; sie habe bei gelehrten Leuten ausgeholfen, sagte sie beiläufig, und endlich auch: sie habe den Studenten Sand gekannt, den Theologen, der ein verworrener Kauz und ein verkrampfter und unfreier Kerl gewesen sei.

      »Der gleiche, der ein Mörder wurde? Der den Staatsrat Kotzebue erstach?«

      »Gerade der.« Den habe sie gekannt, vorher, eh’ er das getan habe, lang vorher.

      »Und was hat man ihm denn angemerkt? War er jähzornig, war er verschlagen oder was?«

      Nichts sei er gewesen als ein frommes Lamm, ein stilles, sagte Maria zögernd. Übrigens habe er im Herbst 1814 in Tübingen gewohnt, bei einem Kaufmann Spellenberg. Sie wußte vielerlei: von der »sprudelnden strudelnden« Freiheitsbewegung, wie sie die Gärung unter den Studenten nannte, der Empörung gegen Unterdrücker und Fremde, die noch aus der Zeit des großen Korsen herkam, der »die Völker gefressen hatte«.

      Sie hatte vom Lützowschen Corps gehört, von tollkühnen Anschlägen, vom Tod des jungen Schill, des Freicorpsführers, der gegen die Franzosen angetreten war. Maria hatte ein sensibles Gespür, eine »dünne Haut«, die alle Vibrationen zittern ließen, für Regungen, die in der Luft lagen; sie wußte schnell, daß der Junge da neben ihr, der, den Kopf auf den Armen, rücklings im Gras lag, solchem Aufwind geöffnet war: der Abneigung gegen den eingefahrenen Trott, den raffinierten, routinierten Gang des geschickten Verhandlers, Agenten, Enthüllers, der für ihn mit dem häßlichen Namen Kotzebue auch gleich ein unschönes Bild weckte; denn Klänge schwangen für ihn in Farben, Wesen wurden zu Konturen wie ein Ornament, die Überwältigung durchs Gefühl überrannte und bannte ihn, bis er sich, selber beschwörend, durch die Magie, des Wortes aus der Umschlingung zog …

      Als er die dunkle Zauberin fragte, wie sie heiße, schien ihm der Name banal; er fragte wieder und wollt’s nicht glauben, er suchte nach einem Wesentlichen und Umfassenden, das sie festhielte und ganz umgriffe, aber sie entglitt ihm; sie war jede Stunde anders, fremd und tief vertraut, da sie ein Element schien, ein Hauch aus dem Baum, unter dem sie lagen, ein anschwellender Fluß und das verblassende Abendrot, Windwehen und Ästewiegen und eine schwere Wolke über dem Berg.

      Sie sprachen nicht viel von Politik, obwohl sie von der manches erkannt hatte, selbständiger als er, dem das alles noch neu war, denn er kam aus der gesicherten, gepanzerten, ummauerten Burg des Elternhauses und wollte im Grunde nicht einmal gern da heraus.

      Sie nannte ihn einmal eine Schnecke im Gehäus, ein anderes Mal eine Muschel, und ahnte nicht, wie das Bild traf.

      Er sagte: »Die Muschelschale meinst du, aber innen ist alles weich, Maria, und wenn ein Sandkorn da hineinbohrt und – drängt, das tut weh.«

      Sie