Ein genialer Rebell - Christian Friedrich Daniel Schubart 1730-1791. Utta Keppler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Utta Keppler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711708538
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zum Vater. Der Diakon schaute den Kleinen nachdenklich an; er belauschte ihn ungesehen, wie er Klavier spielte, dazu murmelnd sang und, mit den kleinen Händen kaum die Oktave spannend, Akkorde versuchte. Er ließ ihm jetzt mehr Raum, hörte ihn an und gab ihm kleine Aufträge. Christian wurde das Leben ein wenig leichter. In den folgenden Wochen fing er an, mit stürmischem Eifer zu lernen: Sprachen, Rechnen, Musik. Musik vor allem fesselte ihn. Er saß stundenlang am Klavier, probierte Tonfolgen, Fingerstellungen, Akkorde. Der Vater hörte staunend zu und half da und dort, nicht sehr geschickt, eher einschüchternd. Aber jetzt ging der Knabe auf alles ein, übte heimlich weiter, suchte es dem Vater recht zu machen. In der Musik verstanden sie sich.

      Einmal brachte der Kleine ein Notenblatt aus seinem Schulsack hervor; plump gekritzelt und oft durchgestrichen, aber lesbar stand da eine kleine Melodie, und der Satz und die Notenzeichen stimmten. Der Vater stellte ihm Themen, die er dann phrasierte. Bald genügte ihm das Klavizimbel nicht mehr, in dem die Klänge fertig schliefen, wie er sagte. Er wollte sie selber bilden: Der Vater kaufte ihm eine Kindergeige. Kaum hatte Christian die Gründe der Technik begriffen, kaum verstanden die dicken kleinen Finger Druck und Gleiten und die Rechte das Bogenführen, da nahm ihn die Fiedel gefangen: Auf und ab und im Triller versuchte er sich, crescendo und decrescendo und vibrato, und geigte grell wie eine Grille und gelegentlich falsch. Aber er spürte die Verwandtschaft zwischen sich selber und dem sensiblen Instrument, das auf jeden Wink ansprach, eindrucksam und abhängig von der führenden, berührenden Hand.

      Dann wechselten die Lehrer in der Schule. Der Präzeptor Rieder war ein kleiner Mann mit einem großen Kopfe, gescheit, gewandt, gebildet, aber irgend etwas stimmte den Knaben mißtrauisch, wenn er einschmeichelnd vorlas und lächelnd dozierte. Er wußte viel und Schubart lernte durch ihn die lateinischen Dichter und Historiker kennen, weit mehr an Stoff, als es seinem Alter und der einfachen Schule zukam. Wieder fragte er und nahm auf, saugte förmlich an, was sich ihm bot; selbst zu gestalten war er noch zu weich. Diese Weichheit war eine Blöße, die der neue Präzeptor spürte und benützte.

      Der Zwölfjährige war gedrungen gewachsen, mit breiter Brust und schmalen Hüften; die runden Hände wirkten fast weiblich, unter blühenden Wangen leuchteten sehr rote kirschweiche Lippen aus dem gedrängten Untergesicht, die Nase war fleischig und vorstrebend, die Augen, dicht neben sie gesetzt, glänzten vogelhaft – neugierig; schwarzbraun funkelten sie jedem entgegen, der ein wenig Sympathie versprach.

      Aber über diesem empfindsamen und sinnlichen Unterbau wölbte sich die Stirn groß und frei, sehr hoch, unproportioniert mächtig, als laste ein edles Gefäß auf schwachem Sockel und erdrücke ihn schier.

      Rieder zog den begabten Schüler an sich heran, horchte ihn aus und lockte ihn zu frühreifen Fragen, gab zweideutige Auskünfte und Winke, bekrittelte den Vater. Aber den Jungen schützte sein feines Gespür. Später berichtete er pathetisch, Ausschweifungen der Wollust hätten den Rieder an den Bettelstab gebracht.

      Solange sich der Lehrer ihm immer wieder aufdrängte, der Vater ihn nur am Klavier gelten ließ, streifte der Junge viel durch Wälder und Wiesen. Um Aalen zogen sich leichtgeschwungene Bergrücken, mit Buchen bewaldet, selten ein Tannenforst dazwischen. Kleine Bäche sprangen dem Kocher zu, in tief eingeschnittenen Schluchten wucherten im Spätsommer die gelben Balsaminenc in der feuchten Düsternis des Talgrundes unter geheimnisvollen Felstrümmern, die die ungefesselte Phantasie des Knaben aufregten. Sagen von verschollenen Raubrittern, vom Quellfräulein, das seine weißen Fingerspitzen als Rinnsale zierlich aus der Erde schickte, vom wilden Jäger, der in Gewitternächten auf schattenhaften Rossen mit seinem Gefolge über den Wald raste – hörte er unter den Landleuten genug.

      Sein Vater mochte sie nicht gern; sie seien aus heidnischem Bodensatz gequollen, meinte er. Aber Christian kletterte nie auf die Buchenhänge am Kocherursprung, ohne mit einem leisen Schauder den Felsbrokken zu beäugen, unter dessen Überhang im heißen Sommer die Mücken schwärmten, als ob sie den erschlagenen Heckenreiter und sein Roß spürten.

      Von Raubrittern war viel die Rede in der Gegend; die Leute erleichterten sich, wenn sie von den verschollenen Peinigern redeten, da sie von den gegenwärtigen nicht reden durften. Christian hörte den Vater stöhnen und die Verwandten, die Lehrer und Forstleute klagen, daß man bitter unter „der Furcht des Herrn“ leide, und erst allmählich begriff er, daß damit nicht Gott gemeint war, sondern seine Gesalbten auf Erden, die Fürsten, denen „alle Gewalt gegeben war“. Er hörte draußen auf seinen Wanderwegen mehr davon als im obrigkeitstreuen Dekanat, denn inzwischen war der Vater Dekan geworden.

      Er merkte, wie ein gutherziger Bauer, der ihn auf einer Wanderung zu seiner Milchsuppe einlud, furchtsam den gewilderten Hasen versteckte, ehe er sich zu Tisch setzte, und wie die Frau dreimal das Brot abstrich, auf dem sie das Schmalz ohnehin knapp bemessen hatte. Er hörte, wie man die jungen Burschen vom Feld holte, wie die Weiber weinten und die Alten murrten, und erfuhr, aufgeweckt wie er war, daß man die Männer gewaltsam zum Soldatendienst preßte, den die preußischen Werber brutal erzwangen. Und einmal sah er, an der Straße gegen Ellwangen, die fürstliche Kavalkade vorüberrauschen, Vorreiter, Läufer, goldblitzendes Pferdegeschirr im Winterabend, wogende Federn am Bock, Windlichter, Schabracken und goldenes Zaumzeug, blitzendes Blendwerk… Man stand am Wegrand und verbeugte sich, bis der Spuk vorüber war. Nachher hörte er die Jagdhörner, weitsehallend, tönend wie auf Flügeln durch den Wiesengrund anschwellen und aushallen – er bestimmte die Töne, den Dreiklang, die Quint – es waren Musikanten unter den Hofjägern. Man redete auch von superben Konzerten in Ludwigsburg, die der junge Herr veranstaltete für seine Brandenburg-Bayreuther Gemahlin oder für andere Damen, die ihn wie ein Flor umgaben. Man redete viel, was Christian nicht alles verstand. Und einmal sagte der Jäger, den er am Kocherursprung traf: „Wenn’s nur alle so zerschlüg wie den bösen Ritter unterm Stein, die hochmögenden Junker und Blutsauger!“

      Manchmal pilgerte Christian auch zum Friedhof von St. Johann außerhalb der alten Stadtmauern gegen den Rohrwang gelegen. Wenn er dort herumstrich, zwischen den Gräbern mit ihren pathetischen Epitaphen, mit Bildwerken, die das Gerippe mit der Sense greifbar machten und das mahnende Stundenglas, dann fühlte er sich verloren und flüchtete in die Ekstase, übersteigerte Angst und Verzweiflung mit der Kraft seiner Phantasie, mit dem angeborenen Hang zum Extrem.

      Da saß er im zeitigen Frühjahr, ein Vierzehnjähriger, unter den kühlen Flügeln des Windes, und versank lustvoll in seine Schwermut. Das gehörte ihm allein, diese düsteren Bilder, dieser Schauder, diese abgründige Furcht. Wenn er sich so mit Seufzen und gerungenen Händen in die Darstellung seines Kummers verlor, sah er vor sich die Heiligen aus den benachbarten katholischen Gotteshäusern mit ihren schmerzvoll verdrehten Gesichtern, den schwimmenden Augen, die immer groß und schön waren, und den gewundenen wolkigen Gewändern. Das Leben war nur als ein pompöses Theater erträglich – dahinter – ja, das wollte man nicht mehr wissen.

      Die Kirchen zogen ihn magisch an, nicht die Orgel allein, die er oft genug in der Aalener Stadtkirche hörte, auch die Bemalung der Wände und Decken; und manchmal wanderte er nach Ellwangen oder in das nahe Unterkochen, wo die gebietende Wallfahrtskirche über dem Dorf thronte, hinter sich den bunten Friedhof mit seinem Ausblick weit über Land.

      Da stand er und staunte Anwanders prunkvolle Marienhuldigung an, die Heimsuchung und den Tod der Jungfrau, und sah die vielerlei gemalten Gestalten vom dunklen Rand zur Kuppel immer heller werden bis zu fast aufgelösten Lichtfarben, vom schweren Irdischen sich verklärend und ein erhöhtes Leben verkündend. Er schwelgte, wie er’s selber nannte, und „ergoß“ seine inneren Erlebnisse in tönende Läufe auf dem häuslichen Klavier, oder er sang. Und heimlich, wie das seinem Alter entsprach, schrieb er Verse: Todesgesänge, schüchterne Liebessehnsüchte, religiöse Gedichte.

      Einer der preußischen Werber, mit dem er ins Gespräch gekommen war, brachte ihm Klopstocks Oden. In seltsamem Gegensatz zu seinem wenig menschenfreundlichen Amt betrieb dieser Hauptmann von Maltitz den Umgang mit der geistlichen Lyrik des literarischen Ideals der Zeit. Christian saugte zugleich mit diesen Hymnen die Begeisterung für den großen Friedrich auf, die dem Hauptmann Antrieb und Rechtfertigung für seine Tätigkeit war. Einmal nahm Maltitz den Buben mit auf eine Werbefahrt; der Vater glaubte, er sitze in der Schule, die der Lehrer beliebig hindehnte, wenn es ihm gefiel.

      Mit