Ein genialer Rebell - Christian Friedrich Daniel Schubart 1730-1791. Utta Keppler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Utta Keppler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711708538
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      „Und wo tobt er jetzt wider sich selber?“ fragte sie in die Stube hinein, als wende sie sich nicht an die ratlosen Männer. Und wo liegt er wie ein gestürzter Vogel? setzte sie in Gedanken hinzu. „Jakob, Hörnervater, rufet die Nachbarn, und ich geh selber und such!“

      Conrad hielt sie am Rock. „Bleib bei mir, Frau Mutter!“ Es stieg bitter in ihm auf, daß man sich mehr sorgte um den Schuldigen als um ihn, der doch beinah – er weinte – beinah zu Tod geschossen worden wäre. Aber – wo es um den Christian ging, galt er nichts mehr.

      Eltern und Großvater blieben lange fort – es wurde völlig Nacht in der Stube, und der Kleine kroch schließlich allein in sein Bett, das er mit dem älteren Bruder Jakob teilte; der schlief schon lang. Als die Eltern sich vor dem Haus von den Nachbarn verabschiedeten, hatten sie nichts gefunden.

      Weinend durchwachte die Mutter die kalte Nacht, immer wieder lief sie vors Haus, rief und suchte im Umkreis, ohne sich weiter weg zu wagen. Es fiel neuer Schnee, Zapfen hingen am Dachrand, im Licht ihrer Laterne wie grimmige Bärte glitzernd. Stumm verschreckt saß die Familie am Morgen bei der Suppe. Jakob Schubart sprach ein Bittgebet, der Großvater machte sich noch einmal auf den Weg …

      Da klopfte es; der Aalener Zoller stand draußen und rief gleich nach dem ersten Gruß: „Habt Ihr nicht gesehen, wie er gegen den Kocher zugelaufen ist? Ich hab ihn gestern gerad noch am Roekzipfel erwischt, er wollt hinein … hat gezappelt und sich gewehrt! Ich bin ein Mörder!’ hat er geschrien, als wäre er von Sinnen. Erschreckt Euch nicht, Frau Schubartin, er hat’s nicht getan – ich hab ihn ja fest am Arm genommen.“

      „Und wo ist er hin?“ fragte der Diakon endlich.

      „Weiter! Als er mir gesagt, wer er ist, wollt’ ich ihn heimführen. Aber er ist mir entlaufen, ich meinte, er werd’ selber heimkommen – und ist er denn nicht hier?“

      „Ach, Zoller“, sagte der Diakon traurig, „diesmal haben Euch die Füß nicht schnell genug getragen, und seid doch so oft schon einem flüchtigen Grenzläufer nachgerennt, so Euch den Zoll hat nicht zahlen wollen“

      „Meine Pistolen vergrab ich“, stöhnte der Hörner.

      „Wenn wir bloß den Buben nicht müssen vergraben – in Sankt Johann draußen!“ antwortete der Vater dumpf. Der Zolleinnehmer verabschiedete sich kurz.

      Die Schubartin weinte den ganzen Morgen, kaum daß sie das Nötigste im Hauswesen tat. Am Mittag, beim Zwölfuhrläuten, ließen alle das Essen stehen. Die Eltern und der Großvater gingen wieder in den Schnee hinaus, sorgsam prüfte der Förster Fußstapfen und Schleifspuren, aber es hatte getaut und jetzt wirbelte es wie ein vergängliches Schleiergeweb vom Himmel – nichts war mehr sicher erkennbar.

      Die Brüder saßen allein in der kalten Kammer, Jakob und Conrad. Da pochte es leis an die Scheibe, einmal, zweimal, schwach wie ein Vogeltritt. Sie sahen sich an und wischten das Glas ab. Durch das Loch im Beschlagenen erkannten sie eine Hand, einen blauen Ärmel, dahinter ein rotes Gesicht.

      „Christian!“ schrien sie beide zugleich. Da war die Gestalt verschwunden, eingetaucht in das verhangene Grau wie ein Spuk. Sie rannten hinaus; im Schnee lag der Christian, leblos, als hätte ihn ein Blitz gefällt. Conrad rief ihn an, Jakob versuchte ihn aufzurichten, sie schleppten ihn zu zweien ins Haus, in die warme Stube. Jakob holte den Milchtopf. Langsam, als falle ihm jedes Lidheben schwer, kam Christian zu sich. Er starrte den kleinen Conrad an wie ein Gespenst. „Bist lebig? Wirklich?“

      „Ja, wo bist denn gewesen?“ fragte Conrad in einem zärtlich besorgten Ton. „Alle haben dich gesucht, die Eltern und der Ähne und die Nachbarsleut und wir auch – und nirgends warst!“ Christian trank gierig seine Milch; er stützte den Kopf in die Hände und saß da wie ein alter Mann. Seine Blicke gingen im Zimmer hin und her, angstvoll suchten sie nach einem Schaden, einem Zeichen seines Verbrechens – ein Junge von zehn Jahren, beladen mit der Qual unerhörter Selbstanklagen, niedergeschlagen von einer heillosen Verstörung, die ihn nie mehr ganz loslassen sollte.

      Inzwischen lief Conrad hinaus, um die Eltern zu suchen. Schon am Zollhaus kamen sie ihm entgegen, ungläubig hörten sie ihn schreien, der Christian sei da, in der Stube, am Ofen sitze er. Sie liefen gehetzt heim. Die Mutter nahm den verlorenen Sohn nah an sich, strich über sein verklebtes Haar, in dem Heufäden hingen, über die zerknitterten Kleider und die haltlos baumelnden Beine, die er kaum ruhig halten konnte; und endlich kam seine Erklärung, unter Stottern und Stokken gestand er: Im Heu habe er gelegen, drüben im Stadel, ganz tief unter dem Haufen, nur den Kopf habe er noch herausgestreckt, daß er nicht ersticke. Und er hätte viel geweint und großen Hunger gehabt, aber kalt sei’s ihm erst geworden, als er vor dem Fenster gewartet, bis er endlich zu klopfen gewagt habe, und jetzt, wo der Conrad lebe, jetzt – er konnte nicht weiterreden, und der Vater nahm ihm das ab, als er die Hände zu einem Dankgebet faltete und alle es ihm nachtaten; denn unter den kunstlosen Worten, die dem Diakon der Augenblick eingab, wurde Christian ruhiger. Er sah dabei den Vater ängstlich an, denn er wußte wohl, daß es mit dem allem nicht getan sei; es mußte etwas nachkommen, unabwendbar.

      Als dann gegessen war – Christian würgte trotz seines Hungers mühsam an seinen Bissen – stand der Vater auf und winkte ihm; Helene warf ihrem Mann einen flehenden Blick zu und die Kinder zuckten auf. Aber der Diakon schritt unerbittlich wie ein zürnender Halbgott durchs Zimmer und der Junge trottete hinterdrein. Draußen in der Kammer wurde das Strafgericht vollführt: Man hörte die Stockschläge und das leise und immer lautere Weinen des Buben, bis der Diakon endlich, sich die Stirn wischend, allein wieder hereinkam.

      Den Christian fand die Mutter in der Küche, im Herdwinkel hockend, das Gesicht in die Arme gedrückt und innerlich noch mehr zerschlagen als am Körper. Sie wagte ihn nicht zu trösten. „Geh ins Bett, Christel“, sagte sie, und das „Christel“ war schon ein bißchen Trost in seinem unabsehbaren Jammer.

      Durch Wochen blieb Christian still.

      „Verstockt“ sagte der Vater, dessen Urteil immer schnell feststand. „Verstört“ nannte es Helene und versuchte vorsichtig, mehr aus dem verstummten Kind herauszuhören. Die Brüder erzählten ihr, was sie von ihm wußten; damit mußte sie zufrieden sein.

      In der Schule fand Christian etwas wie eine geistige Zuflucht. In den ersten Jahren hatte man ihn für dumm gehalten, steif und unbeteiligt hockte er in seiner Bank, um ihn herum die Horde der allzuvielen ungehobelten und nur durch drakonische Strenge zusammengehaltenen Buben: Geschrei und Gestank, Prügeleien untereinander und wüste Unordnung stießen ihn ab; der Präzeptor schlug viel, tobte, pochte dröhnend auf den Tisch. Lesen wurde nach seltsamen Methoden geübt, die Schreibkunst lag im argen – alles war trocken und zwanghaft. Da stellt sich ein feuriges, phantasievolles Kind taub und blind. Christian blieb unansprechbar, bis der Lehrer auf einem Schulausflug mit einem hingeworfenen Wort über die Forellen seine Einbildungskraft weckte. Der Bub spann den Faden weiter, das Leben, das Wesen, das kleine Schicksal der Forelle packte ihn und bewegte seine Gedanken. Er schrieb einen Aufsatz darüber, fragte weiter und erfand dazu.

      Von dieser Zeit an gewann der Lehrer Einfluß auf den Knaben, verstand, daß er nicht durch dürre Regeln zu fesseln sei, sondern durch das Bild, das wie ein Blitz in ihn eindrang und zündete.

      Das Bild! Bilder zu sehen und zu formen, sich selber zu betrachten und die Spiegelung seines Ich in anderen zu beobachten, das war der Schlüssel zu dem seltsamen Knaben, und der Lehrer gebrauchte ihn hin und wieder, so oft ihm der Lärm und die Trägheit der vielen anderen Zeit dazu ließen.

      Er träumte: Dunkler Waldbach, überhängende Zweige streifen die schwellende Fläche, Schatten flekken das Wasser, gelbfunkelnde Lichter zerdehnt die Bewegung der Welle. Da taucht es auf, eine dunkle Spur, ein Wirbel, schnalzende zuckende Bewegung: Die Forelle. Er träumte davon, nachts griff er mit den Händen ins Kissen, um sie zu fassen. Oder – ein anderes wilderes Bild: Die Flamme. Am Herd stand Helene und schürte dürre Scheite, die sofort Feuer fingen, Reisig, knackendes Kleinholz. Da loderte es auf, rotgelb, grell, ohne Halt und Kontur, unaufhaltsamer Wechsel, Flackern, Zittern, leckendes Umsichgreifen… und Verzehren. Alles wird da verwandelt: Keine Form hält ihm stand, jede vergeht, krümmt sich, verfärbt und veraltet und fällt