Rudolf Stratz
Das Geheimnis von Fuensanta
Saga
Das Geheimnis von FuensantaCover Bild: Shutterstock Copyright © 1926, 2019 Rudolf Stratz und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711507261
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
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I
Nette Zeit! — Fünf Uhr in der Früh!“ Der Medizinalrat gähnte, während er vor dem Friedhofseingang aus dem Auto kroch. Er schaute zurück. Dort hinten verschwamm, im Dunst des blassblauen Junimorgens, ein endloses Häusermeer. „Jetzt steigen die Leute in Berlin erst aus den Betten!“
„. . . und die Toten aus den Gräbern . . .“
Der Begleiter des Gerichtsarztes sprach das beiläufig. Er ging auf das trotz der frühen Stunde schon offene Gittertor zu, woe in alter Wärtet mit dem Schlüsselbund in der Hand Wache hielt.
„Ich bin der Rechtsanwalt Doktor Albert Burhem!“ sagte er schnell und nervös. Unruhe zuckte auf seinem glattrasierten, scharfen Gesicht. Er griff ungeduldig nach einem Stück Papier in der Hosentasche. „Hier der amtliche Zulassungsschein für mich als den Rechtsfreund der Familie Matteis, zu der für heute fünf Uhr morgens behördlich angeordneten Exhumierung der Leiche der Frau Elfriede Vohwinkel, geborenen Matteis!“
„Jerade die Allee lang und den zweiten Weg links, Herr Doktor!“ Der Alte legte die Hand an den roten Mützenstreifen und wante sich dem zweiten, dem Graubart, zu. „Morjen, Herr Medizinalrat! Ooch mal wieder hier bei uns stillen Leuten? Det scheint ja heute wieder ’n janz fauler Zimt zu sein! Jestern, bis das Tor jeschlossen wurde, war schon ein Menschenjedrängel um das Irab von der jungen Frau! Ob bei der ihren Tod wirklich nich allens mit rechten Dingen zugegangen sei, wollten die Leute von mir hören! ,Kann ick det wissen?‘ hab’ ick jesagt. ,Davon hat det Jericht selber noch keenen richtigen Bejriff von ’ner blassen Ahnung!‘“
„Wir werden ja sehen, lieber Freund!“ Der Kreisarzt schüttelte kurz und abwehrend den Kopf. Er und der Rechtsanwalt gingen den breiten Sandweg entlang. Sie streiften mit den Strohhüten die taufeucht niederhängenden Trauerweiden. Still standen die schwarzen Türme der Zypressen. Diamantene Wassertropfen funkelten an den Farnstauden und Grashalmen. Finkenschlag und Spatzengezirpe allein trillerte in der tiefen Morgenstille. Dann räusperte sich der Rechtsanwalt Burhem. Sein ironisch kluges Gesicht sah plötzlich resigniert und müde aus, älter als vorhin.
„Jetzt steigen die Toten aus den Gräbern . . .,“ wiederholte er, aus seinen Gedanken heraus. Er wurde in einer raschen Veränderlichkeit seines Wesens mit einem Schlag wieder lebhaft. Sein hageres Antlitz — an sich ein mathematisches Antlitz voll Verstandeslinien — füllte sich mit dem beweglichen Widerspiel neuer Einfälle. Er putzte gewohnheitsmässig seinen goldenen Zwicker, setzte ihn wieder auf und betrachtete das Gewimmel der Grabsteine umher.
„Haben Sie eigentlich einmal darüber nachgedacht,“ sagte er rasch und vertraulich zu dem kleinen, dicken, alten Herrn neben ihm, „dass die wenigsten Menschen leben? Weitaus die meisten Menschen sind schon längst wieder tot! Wenn es zu einer Abstimmung käme, würde der Tod mit zehn Pferdelängen über das Leben siegen! Die Toten sind — ganz unter uns — in einer kolossalen Überzahl! Also warum schlägt man sich zur Minderheit! Warum lebt man? Oder legt so viel Wert auf das Leben? Es ist doch nur ein Übergang vom Nichts ins Nichts. Der Genuss eines ganz kurzen Erbrechts!“
„Ihre Sorgen möchte ich haben, Herr Doktor!“
„Wissen Sie, wo mir das dämmerte? Bei ’ner Testamentseröffnung, vor Jahren, in einem alten Ahnenschloss! Immer dreissig Vorfahren an den Wänden auf einen der drei noch Lebenden! Unten in der Gruft die Kerzen in unserer Hand nur wie Lichtpünktchen in der schwarzen Nacht über unzähligen Särgen. Dieses Lichtpünktchen nennt man nun grossartig das Leben. Lachbar! Das Leben ist einfach eine kurze Unterbrechung des Todes. Diese Unterbrechung ist unnötig! Das Leben ist ’ne miserable Angewohnheit! Immer rundum — wie ’n Karussell! . . . Höherer Stumpfsinn . . .“
„Sie sehen so gelb aus! Sie haben sicher wieder die Nacht durchgespielt!“
„Ja — was soll man denn sonst nachts machen?“
„Schlafen!“
„Ich schlafe doch nicht. Schon seit zwei Jahren, seitdem ich geschieden bin, nicht mehr! Seitdem kann ich die Weiber nicht recht leiden. Und die Männer mag ich auch nicht! Na — und sonst hat die Schöpfung doch nicht viel auf Lager!“
Auf dem hageren, scharfen Antlitz des Rechtsanwalts Burhem kämpfte wieder, wie Sonne und Schatten im April, die logische Kälte juristischen Denkens mit dem heissen Kampftemperament des Verteidigers.
„Nee — mir ist manchmal katzenjämmerlich zumut, lieber Medizinalrat! Dann frage ich mich: was hat denn das alles eigentlich für einen Zweck?“
„Was denn — alles?“
„Na — Gott: alles! — Berlin da hinten — die Grabkreuze da vorn — alte und neue — die Kapelle dort drüben — das Leben — der Tod . . .! Zu so ’ner ausgefallenen Stunde wie jetzt, wo jeder vernünftige Mensch zu Bett geht, finde ich das Leben sträflich langweilig! Nie was Neues!“
„Und das sagen Sie, Doktor Burhem?“ Der alte Herr blieb entrüstet stehen. „Sie, den Tausende Ihrer Kollegen beneiden — der es mit noch nicht vierzig zu einem der berühmtesten Verteidiger von Berlin gebracht hat — der Geld verdient, wie er nur will, der über eine wahrhaft unheimliche Beredsamkeit verfügt — der dabei — verzeihen Sie, aber ich habe Sie zu oft im Gerichtssaal gehört — zugleich eine phänomenale Klarheit des Denkens besitzt . . .“
„Es müsste mal was Besonderes passieren!“ sagte sinnend der Rechtsanwalt Burhem, ohne recht zuzuhören. Der Medizinalrat marschierte zornig weiter.
„Sie, der Sie in den grössten Sensationsprozessen der letzten Jahre als Verteidiger die Hauptrolle spielten . . .“
„Sensationen?“ Der Rechtsanwalt betrachtete zerstreut im Vorbeigehen die Grabsteine . . . „Sensationen sind meist das Alleralltäglichste! Es gibt nichts Banaleres als Sensationen!“
„Sie hatten doch Fälle, bei denen einem der Atem stillstand!“
„Das Allerlangweiligste auf der Welt sind die sogenannten interessanten Fälle!“ Der Jurist bog mit dem Arzt in den Seitengang zur Linken. „Zum Beispiel diese Affäre hier, heute morgen — mit der Ausbuddelung dieses Sarges — obwohl ganz Berlin seit vier Wochen davon spricht! . . . Sehen Sie mal: da ist also eine reizende junge Frau — gekannt habe ich sie nicht — aber alle Welt sagt: sie war reizend. Die reizende junge Frau stirbt vor einem Jahr. Nein. Sie stirbt eigentlich nicht. Denn ihr Bild bleibt doch in der Erinnerung derer, die sie kannten. Noch in fünfzig Jahren murmelt ein Greis, der jetzt eben die Wahlmündigkeit erreicht hat: Gott — was war sie reizend! Aber mit dem schönen Bild begnügen wir uns nicht. Wir sind moderne Menschen. Wir sind Hunnen. Wir zerteppern, wenn’s sein muss, den schönsten Regenbogen. Wir reissen die sterblichen Überreste von etwas, was einmal reizend war, aus dem Grab, nur, um uns die Vergänglichkeit alles Irdischen zu Gemüte zu führen . . .“
„Warum haben Sie denn dann dabei die Vertretung der Familie Matteis übernommen?“
„Weil ich im letzten Jahr schon wiederholt Rechtsbeistand der Automobilfabrik Emil Matteis A.G. draussen an der Oberspree war, deren Aktien . . .“
„Gestern an der Nachtbörse 117 Geld — ich wollt’, ich hätte welche!“
„. . . also deren Aktien sich sämtlich im Besitz der Familie befinden! Nachdem Fräulein Matteis mich nun ausdrücklich gebeten hatte, hier dabeizusein . . .“
„Wieso Fräulein Matteis und nicht