Im Schatten der Vergeltung
Rebecca Michéle
Historischer Roman
edition oberkassel
2013
1. Kapitel
Trenance Cove, Cornwall, Sommer 1780
Maureen runzelte die Stirn, als es an der Tür klopfte. Sie warf einen letzten Blick auf die Zeilen in dem aufgeschlagenen Buch, das vor ihr auf dem Tisch lag:
... Eine der Maximen Walpoles war, das Bestehende zu sichern, lieber die Missbräuche zu gestatten, die mit dem eingeführten System zusammenhingen, als Reformen zu wagen, welche den Geist der Neuerung hätten erwecken können ...
Erst als es zum zweiten Mal hartnäckig an der Tür klopfte, blickte Maureen unwillig von ihrer Lektüre auf.
»Ja?«
Die Tür öffnete sich einen Spalt, und die Zofe Nelly trat zögernd ins Zimmer.
»Mylady ...?«
»Ich habe doch gesagt, dass ich nicht gestört werden möchte!« Maureen klappte das Buch mit dem Titel Das Leben und Wirken Robert Walpoles zu und legte es zur Seite. »Was gibt es denn?«
Nelly räusperte sich.
»Lady Linnley ist soeben eingetroffen. Mr. Jenkins hat sie in den Salon geführt.«
Maureen erhob sich.
»Danke, Nelly. Richte Lady Linnley aus, ich bin sofort bei ihr.«
Maureen war über den überraschenden Besuch der Nachbarin nicht sehr erfreut. Sie liebte die Stunde der Muße am Nachmittag, wenn sie in ihrem Zimmer sitzen und in dicken Büchern lesen konnte. Das Personal wusste, dass sie in dieser Zeit nicht gestört werden wollte, aber ein Besuch der vermögendsten und einflussreichsten Frau der Grafschaft durfte nicht ignoriert werden. Nun saß Esther Linnley im Salon, und der Butler Jenkins servierte den Tee. Maureen warf einen bedauernden Blick auf das Buch, dessen weitere Lektüre bis zum nächsten Tag würde warten müssen, denn wenn Lady Linnley sich erst einmal gesetzt hatte, bestand wenig Hoffnung, dass sich die Dame vor dem Dinner wieder verabschieden würde.
Maureen trat vor den Spiegel und glättete ihr widerspenstiges Haar. Einzelne Strähnen der dunkelblonden Locken hatten sich aus den Haarnadeln gelöst und fielen unordentlich in Maureens Stirn und in den Nacken. Mit geübten Handgriffen steckte sie die Frisur wieder fest, strich dann über ihr Nachmittagskleid, das auch ohne Zierrat elegant und dem Anlass entsprechend war. Sie verließ ihr Zimmer und traf am oberen Treppenabsatz auf ihre Tochter, die offenbar auf sie gewartet hatte.
»Mama, ich glaube, die Kutsche der Linnleys ist vorgefahren.«
Maureen sah den erwartungsvollen Glanz in Fredericas eisblauen Augen, und auf ihren Wangen zeigten sich kleine rote Flecken. »Es besteht kein Grund zu übermäßiger Freude«, sagte sie und nickte Frederica beruhigend zu. »Lady Esther beehrt uns mit einem überraschenden Besuch. Sie kam jedoch allein.«
»Ach so.« Fredericas Enttäuschung war offensichtlich. »Es hätte ja sein können ...«
Maureen seufzte verhalten. Sie wusste, ihre Tochter hatte gehofft, George Linnley, den Sohn der Nachbarsfamilie ebenfalls begrüßen zu können. Seit einiger Zeit hatte ihre Tochter aus für Maureen völlig unerfindlichen Gründen ihr Herz an den jungen Sohn der Nachbarn verloren. Maureens wusste nicht, ob sie es begrüßen oder bedauern sollte, dass George Linnley mehr als die übliche höfliche Aufmerksamkeit ihrer Tochter zu schenken schien.
»Du kannst Lady Esther trotzdem begrüßen und den Tee einschenken«, sagte sie und sah ihre Tochter auffordernd an. »Sie würde sich bestimmt freuen, dich zu sehen.«
»Oh, da fällt mir ein, ich muss heute unbedingt noch ein paar Briefe schreiben«, wehrte Frederica ab, lief schnell die Treppe ins zweite Obergeschoss hinauf und Maureen hörte, wie die Tür ihres Zimmers lauter als nötig ins Schloss fiel. Sie schmunzelte, denn sie hatte Verständnis für Fredericas offensichtliche Ausrede. Sie selbst hätte ebenfalls gern auf Lady Esthers Gesellschaft verzichtet. Als Hausherrin blieb ihr jedoch nichts anderes übrig, als in den Salon zu gehen und die Nachbarin mit freundlicher Miene willkommen zu heißen.
»Wer fragt mich eigentlich, ob mir der Besuch gelegen kommt?«, murmelte Maureen, straffte die Schultern, atmete tief durch, wappnete sich innerlich für das Gespräch mit der klatschfreudigen Lady Esther und betrat unverbindlich lächelnd den Salon. Keine Regung in Maureens faltenlosem Gesicht offenbarten ihre wahren Gefühle. Sie beherrschte das Spiel der aufgesetzten Freundlichkeit perfekt.
Lady Esther Linnley musterte sie erwartungsvoll und mit leicht gerunzelter Stirn.
»Maureen, ich hoffe, dich nicht bei einer wichtigen Arbeit unterbrochen zu haben. Ich warte immerhin schon seit einer Viertelstunde.«
Der unterschwellige Vorwurf in ihrer tiefen, leicht männlichen Stimme war unüberhörbar, dabei war es Lady Esther gleichgültig, ob sie ungelegen kam. Sie erwartete, dass sich alle Menschen über ihren Besuch jederzeit freuten. Selbst wenn ihr unsensibles Gemüt bemerkt hätte, dass ihr Besuch Maureens Pläne durcheinanderbrachten – Esther Linnley kümmerte sich nicht im Mindesten darum. Hauptsache, sie fand Gelegenheit, den neuesten Tratsch zu verbreiten.
»Nein, Lady Esther, keineswegs«, versicherte Maureen mit einem zuckersüßen Lächeln. »Wie ich sehe, hat Jenkins bereits eine kleine Stärkung serviert.«
Auf dem zierlichen Chippendale-Tischchen standen eine Kanne Tee, zwei Tassen und Teller sowie eine Platte mit noch warmem Apfelkuchen und kleinen, belegten Gurkenbrötchen. Maureen schenkte erst ihrem Gast, dann sich selbst ein und bot von dem Kuchen an. Lady Esther griff eifrig zu und legte sich gleich zwei Stücke auf den Teller. Erst dann nahm Maureen Platz. Die innere Anspannung war ihr nicht anzumerken. Scheinbar ruhig wartete sie, bis Lady Esther das Gespräch eröffnete, die Dame nippte aber nur am Tee und kostete dann von dem Kuchen.
»Da ist zu viel Zimt drin!«, stellte sie schließlich missbilligend fest. »Er überdeckt den Apfelgeschmack, darauf musst du künftig achten, Maureen.«
Maureen spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg.
»Ich werde es der Köchin ausrichten«, antwortete sie ruhig. Auch nach den vielen Jahren brachte es Lady Esther immer noch fertig, Maureen das Gefühl der Unzulänglichkeit zu vermitteln.
»Kindchen, du wirst es schon noch lernen. Das A und O einer guten Hausherrin ist, das Personal mit strenger Hand zu führen.«
Gönnerhaft tätschelte sie Maureens Hand. Der angeblich zu dominante Zimtgeschmack hinderte sie nicht daran, nach einem dritten Stück zu greifen und sich dieses schmecken zu lassen. Während sie genüsslich kaute, röteten sich ihre dicken Wangen. Überhaupt war an Lady Esther alles rund und rosig. Maureen hoffte, die Nachbarin würde endlich den Grund ihres Besuches nennen. Esther Linnley kam niemals einfach so zu einem Plausch vorbei, zumindest nicht nach Trenance Cove, aber Maureens Geduld wurde heute auf eine harte Probe gestellt.
»Eine große Bitte führt mich heute zu dir«, nahm Lady Esther die Unterhaltung erst wieder auf, nachdem sie noch zwei Sandwiches gegessen und eine weitere Tasse Tee getrunken hatte. Kein Wunder, dass sie so korpulent ist, dachte Maureen und lehnte sich gespannt zurück. »Es geht um unser Gartenfest am kommenden Samstag«, fuhr Lady Esther fort.
Für die ganze Grafschaft bedeutete das Gartenfest der Linnleys das Ereignis des Jahres. Hier galt es, sehen und gesehen zu werden, und soziale Kontakte zu pflegen oder neue zu schließen. Wer auf Linnley Park eingeladen wurde, war gesellschaftsfähig; wer von Esther Linnley gemieden wurde, dem blieben die Türen aller guten Häuser verschlossen. Von ihr anerkannt und in ihre Gesellschaft aufgenommen zu werden, galt mehr als eine Audienz bei der Gemahlin von König George. Unwillkürlich erinnerte sich Maureen an den Tag, als sie das erste Mal Linnley Park betreten und Lady Esther vorgestellt worden war. Es war eine einzige Katastrophe gewesen.
Schnell schob sie die unerfreulichen Erinnerungen an die Vergangenheit zur Seite und sagte mit einem unverbindlichen Lächeln: »Auch im Namen meines Gattens und meiner Tochter kann ich Ihnen versichern,