Marcel Schwob
Das Buch von Monelle
Saga
Das Buch von MonelleCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1894, 2020 Marcel Schwob und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726594423
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
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BERECHTIGTE ÜBERTRAGUNG VON FRANZ BLEI
monelle traf mich auf der heide, wo ich irrte, und nahm mich bei der Hand.
Sei nicht erstaunt, sagte sie, ich bin es, und ich bin es nicht;
Du wirst mich noch einmal wiederfinden, und du wirst mich verlieren;
Wieder einmal komme ich zu euch; denn wenige Männer haben mich gesehen, und keiner hat mich verstanden;
Und du wirst mich vergessen und wirst mich wiedererkennen und wirst mich vergessen.
Und Monelle sprach weiter: Ich will zu dir von kleinen Prostituierten reden, und du wirst den Anfang wissen.
Bonaparte, der Schlächter, traf mit achtzehn Jahren unter den eisernen Toren des Palais-Royal eine kleine Prostituierte. Sie war ganz bleich und zitterte vor Kälte. Aber „man muß leben“, sagte sie ihm. Nicht du, nicht ich kennen wir den Namen dieser Kleinen, die Bonaparte in einer Novembernacht auf sein Zimmer in Cherbourg nahm. Sie war aus Nantes in der Bretagne. Sie war schwach und müd, und ihr Geliebter gab sie auf; ihre Stimme hatte einen sehr weichen Klang. Bonaparte erinnerte sich an alles das. Und ich denke, daß ihn später, nachher, die Erinnerung an ihre Stimme zu Tränen bewegt hat und daß er sie lange gesucht hat, ohne sie zu finden, an den Winterabenden.
Denn, siehst du, die kleinen Prostituierten treten nur einmal aus der nächtlichen Menge, um ein Gutes zu tun. Die arme Anne kam dem Thomas de Quincey, dem Opiumtrinker, zu Hilfe, da er unter den großen Lampen der breiten Oxfordstreet ohnmächtig hinsank. Mit feuchten Augen brachte sie ein Glas Wein an seine Lippen, umarmte ihn und liebkoste ihn. Dann ging sie in die Nacht zurück. Vielleicht, daß sie bald starb. Sie hustete, sagt de Quincey, den letzten Abend, da ich sie sah. Vielleicht irrte sie noch in den Straßen umher; aber wie er sie auch suchte und dem Gelächter der Leute trotzte, die er nach ihr fragte — Anne war für immer verloren. Später, da er eine warme Stube hatte, dachte er oft mit Tränen, wie Anne nun bei ihm hätte leben können, statt daß er sie krank denken mußte, oder sterbend, oder verzweifelt in dem Elend eines Londoner Bordells, und daß alle erbarmungswürdige Liebe ihres Herzens weggegeben war.
Sieh, sie schreien in Mitleid zu euch und streicheln eure Hand mit ihrer mageren. Sie verstehen euch nur, wenn ihr sehr unglücklich seid; sie weinen mit euch, und sie trösten euch. Die kleine Nelly kam zu dem Sträfling Dostojewsky aus ihrem schlechten Hause und sah ihn fiebersterbend an, bange mit ihren großen schwarzen zitternden Augen. Die kleine Sonja — sie lebte wie die andern — hat den Mörder Rodion umarmt, da er sein Verbrechen gestand. „Du bist verloren!“ rief sie in Verzweiflung. Und erhob sich plötzlich und warf sich an seine Brust. . . „Nein, es gibt keinen Menschen jetzt auf der Erde, der unglücklicher ist als du!“ rief sie ganz voll Mitleiden und brach in Tränen aus.
Wie Anne und wie jene ohne Namen, die den jungen und traurigen Bonaparte tröstete, so tauchte Nelly im Nebel unter. Dostojewsky hat nicht gesagt, was aus der kleinen Sonja geworden ist, der blassen und mageren. Nicht ich, nicht du wissen, ob sie Raskolnikoff bis ans Ende seiner Buße helfen konnte. Ich glaube es nicht. Sie verging ganz sanft in seinen Armen, da sie zuviel gelitten und geliebt hatte.
Keine von ihnen, sieh, kann mit euch bleiben. Sie wären zu traurig, und sie schämen sich zu bleiben. Wenn ihr nicht mehr weint, wagen sie es nicht, euch anzusehen. Sie lehren euch, was sie lehren können, und gehen. Sie kommen durch Kälte und Regen, euch auf die Stirn zu küssen, eure Augen zu trocknen, und die bösen Dunkelheiten nehmen sie wieder auf. Vielleicht müssen sie wo anders hingehn.
Ihr kennt sie nur, während sie mitleidig sind. Man soll nicht an das andere denken. Man soll nicht an das denken, was sie in den Dunkelheiten tun könnten. Nelly in dem schlechten Hause, Sonja betrunken auf einer Straßenbank, Anne, die das leere Glas zu dem Weinhändler in der dunkeln Gasse bringt — sie waren vielleicht grausam und lasterhaft. Sie traten aus einem düstern Durchgang, uns einen mitleidsvollen Kuß zu geben unter der leuchtenden Lampe der großen Straße. In diesem Augenblick waren sie göttlich.
Alles andre muß man vergessen.
Monelle schwieg und sah mich an:
Ich komme aus der Nacht, sagte sie, und gehe wieder in die Nacht zurück. Denn auch ich bin eine kleine Prostituierte.
Und Monelle sagte weiter:
Ich habe Mitleid mit dir, ich habe Mitleid mit dir, mein Geliebter.
Doch gehe ich in die Nacht zurück; denn es ist nötig, daß du mich verlierst, bevor du mich wiederfindest. Und wenn du mich wiederfindest, entkomme ich dir aufs neue.
Denn ich bin die, die allein ist.
Und Monelle sagte weiter:
Weil ich allein bin, wirst du mir den Namen Monelle geben. Aber es wird dir sein, als hätte ich die andern Namen alle.
Und ich bin diese und diese, und diese auch, die keinen Namen hat.
Und ich werde dich unter meine Schwestern führen, die ich selbst sind und den Prostituierten ohne Verstand gleichen;
Und du wirst sie sehen, gequält von Eigensucht und Wollust und Grausamkeit und Stolz und Geduld und Mitleid, und dies, weil sie sich noch nicht gefunden haben;
Und du wirst sie sehen, wie sie weit gehen, sich zu suchen;
Und du wirst mich selbst finden, und ich werde mich selbst finden; und du wirst mich verlieren, und ich werde mich verlieren.
Denn ich bin die, die verloren ist, sobald man sie gefunden hat.
Und Monelle sagte weiter:
An diesem Tag wird eine kleine Frau dich mit ihrer Hand berühren und davoneilen;
Denn alle Dinge sind flüchtig; aber Monelle ist das flüchtigste von allen.
Und bevor du mich wiederfindest, werde ich dich belehren in dieser Einöde, und du wirst das Buch Monelle schreiben.
Und Monelle reichte mir einen hohlen Stecken, auf dem rosige Staubfäden brannten.
— Nimm diese Fackel, sprach sie, und brenne. Brenne alles auf Erden und am Himmel. Und brich den Stecken und lösch ihn aus, wenn du verbrannt hast, denn nichts soll weitergegeben werden;
Auf daß du der zweite Narthekopher seiest und mit Feuer zerstörest und das Feuer, vom Himmel gekommen, zum Himmel zurückkehre.
Und Monelle sagte weiter: Ich will zu dir von der Zerstörung sprechen.
Dies ist das Wort: Zerstöre, zerstöre, zerstöre. Zerstöre in dir, zerstöre um dir. Mach Platz für deine Seele und für die andern Seelen.
Zerstöre alles Gute und alles Böse. Die Schutthaufen sind die gleichen.
Zerstöre die alten Wohnungen der Menschen und die alten Wohnungen der Seelen; die toten Dinge sind Spiegel, die entstellen.
Zerstöre, denn alle Schöpfung kommt aus der Zerstörung.
Und um der höheren Güte willen muß man die niedere Güte ausrotten. Und so erstehe das neue Gute, gesättigt mit Bösem. Und um eine neue Kunst zu erschaffen, muß man die alte Kunst zerbrechen. Die neue Kunst wird so dem Bildersturme gleichen.
Denn