James Joyce
Ulysses
MIT EINFÜHRUNG
VON C. GIEDION-WELCKER
Saga
UlyssesCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1922, 2020 James Joyce und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726642858
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
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Gravitätisch kam der dicke Buck Mulligan vom Austritt am obern Ende der Treppe: er trug ein Rasierbecken, auf dem kreuzweise ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen. Im milden Morgenwind bauschte sich leicht hinter ihm ein gelber, ungegürtelter Schlafrock. Er hob das Becken in die Höhe und stimmte an:
«Introibo ad altare Dei.»
Dann machte er halt, sah die dunkle Wendeltreppe hinab und rief rauh:
«Kinch, komm rauf! Komm rauf, du grässlicher Jesuit!» Feierlich ging er dann weiter und kletterte auf das runde Geschützlager. Er blickte um sich und segnete ernst dreimal den Turm, das umliegende Land und die erwachenden Berge. Dann sah er Stephan Dädalus, verneigte sich vor ihm und schlug viele Male schnell das Zeichen des Kreuzes, wobei er glucksende Töne ausstiess und den Kopf bewegte. Stephan Dädalus war schlechter Laune und schläfrig; er lehnte seine Arme auf die oberste Treppenstufe und blickte gleichgültig in das ihn segnende, sich bewegende, glucksende Gesicht, pferdehaft in seiner Länge, und auf das helle, nicht gleichmässig eichengelbe Haar ohne Tonsur.
Buck Mulligan sah einen Augenblick unter den Spiegel, legte ihn dann schnell wieder auf das Becken.
«Rin in die Kiste», sagte er streng.
Im Predigerton fügte er hinzu:
«Denn dies, geliebte Gemeinde, ist das wahre Eucharistilin: Leib und Seele, Kotzdonner. Langsam spielen, bitte. Schliessen Sie die Augen, meine Herren. Einen Augenblick! Von selbst geht’s nicht mit diesen weissen Körperchen. Ruhe, alle!»
Er schielte in die Höhe und pfiff dumpf und lange, wartete dann wie verzückt kurze Zeit. In seinem regelmässigen Gebiss schimmerten hier und da Goldplomben. Chrysostomos. Durch die Stille antworteten zwei laute, schrille Pfiffe.
«Danke, alter Junge», rief er lebhaft. «Das genügt. Dreh die Luft ab!»
Er sprang vom Geschützlager und blickte ernst auf seinen Beobachter, wobei er die losen Falten seines Schlafrockes um die Beine raffte. Das dicke, helldunkle Gesicht mit dem ovalen, mürrischen Kiefer erinnerte an einen Prälaten, den Förderer der Künste im Mittelalter. Friedliches Lächeln floss ruhig über seine Lippen.
«Ist doch zum Lachen», sagte er froh. «Dein seltsamer Name, ein alter Grieche.»
In freundschaftlichem Scherz drohte er ihm mit dem Finger, ging hinüber an die Brustwehr und lachte vor sich hin. Stephan Dädalus kam näher, folgte ihm müde halbwegs, setzte sich auf den Rand des Geschützlagers und beobachtete ihn wieder, als er jetzt seinen Spiegel auf die Brustwehr stellte, den Pinsel ins Becken tauchte und Backen und Hals einseifte.
Lustig schwatzte Buck Mulligan weiter:
«Hab auch so’n seltsamen Namen: Malachi Mulligan, zwei Daktylen. Klingt auch ganz griechisch, was? Hüpfend und lustig wie ein echter Bock. Wir müssen nach Athen. Kommst du mit, wenn ich der Tante zwanzig Pfund entsteisse?»
Er legte den Pinsel weg, lachte froh und sagte:
«Kommt er mit, der nüchterne Jesuit?»
Er sprach nicht weiter, begann sich sorgfältig zu rasieren.
«Hör mal, Mulligan», sagte Stephan ruhig.
«Ja, mein Lieber, was gibt’s?»
«Wie lange bleibt Haines noch in diesem Turm?»
Buck Mulligan zeigte über seiner rechten Schulter eine rasierte Backe.
«Der ist ein verdammt grässlicher Kerl», sagte er frei heraus. «Ein plumper Engländer. Meint, du wärst kein Gentleman. Lieber Gott, diese verdammten Engländer. Platzen vor Geld, diese vollgefressenen Säcke. Weil er von Oxford kommt. Weisst du, Dädalus, hast die echte Oxford Art. Er wird nicht klug aus dir. Ja, ja, der Name, den ich dir gegeben habe, ist immer noch der beste: Kinch, die Messerklinge.»
Er rasierte vorsichtig das Kinn.
«Die ganze Nacht faselte er von einem schwarzen Panther», sagte Stephan. «Wo ist sein Gewehrkasten?»
«Der arme Teufel ist mondsüchtig», sagte Mulligan. «Hast du Angst gehabt?»
«Und ob», antwortete Stephan mit Nachdruck; und wieder packte ihn die Angst.«Hier draussen im Dunkeln mit jemandem, den ich nicht kenne, der phantasiert und sich von einem schwarzen Panther was vorstöhnt, den er schiessen will. Du hast Menschen vom Ertrinken errettet. Ich aber bin kein Held. Wenn der hier bleibt, haue ich ab.»
Buck Mulligan sah grimmig auf den Seifenschaum an der Klinge seines Rasiermessers. Er rutschte von seinem hohen Sitz und suchte hastig in seinen Hosentaschen.
«Verdammte Scheisse», knurrte er.
Er ging hinüber an das Geschützlager, warf eine Hand in Stephans obere Tasche und sagte:
«Gestatte mal deine Rotzfahne, will mein Rasiermesser abputzen.» Stephan liess ihn ruhig ein schmutziges, zerknülltes Taschentuch aus der Tasche ziehen, das er jetzt an einem Zipfel in die Höhe hielt. Buck Mulligan säuberte sorgfältig die Klinge. Dann betrachtete er das Taschentuch und sagte:
«Des Barden Rotzfahne. Eine neue Nuance für unsere irischen Dichter: rotzgrün. Schmeckt das ordentlich, was?»
Wieder ging er an die Brustwehr und sah hinüber über die Bai von Dublin; sein helles, eichenfarbenes Haar wurde vom Winde leicht in die Höhe geweht.
«Lieber Gott», sagt er ruhig. «Das Meer ist wirklich was Algy sagt: eine grosse, liebe Mutter. Das rotzgrüne Meer. Das scrotumzusammenziehende Meer. Epi oinopa ponton. Ach, Dädalus, die Griechen. Die musst du kennen lernen, durch mich. Im Original musst du sie lesen. Thalatta! Thalatta! Es ist unsere grosse, liebe Mutter. Komm und sieh!»
Stephan stand auf und ging hinüber an die Brustwehr. Er lehnte sich dagegen, schaute hinunter auf das Wasser und das Postschiff, das langsam den Hafeneingang von Kingstown verliess.
«Unsere mächtige Mutter», sagte Buck Mulligan. Plötzlich wandte er seine grossen, suchenden Augen weg vom Meer in Stephans Gesicht.
«Die Tante glaubt, dass du deine Mutter umbrachtest», sagte er. « Deshalb will sie nicht, dass ich mit dir verkehre.»
«Irgendjemand brachte sie um», sagte Stephan düster.
«Verdammt noch mal, Kinch, hättest auch niederknien können, als deine sterbende Mutter dich darum bat», sagte Buck Mulligan. «Ich bin so hundeschnäuzig wie du. Aber der Gedanke, dass deine sterbende Mutter dich mit ihrem letzten Atem bittet, niederzuknien und für sie zu beten. Und dass du das nicht tatest. In dir lebt irgendein Unheilvolles. . .»
Er sprach nicht weiter, seifte wieder leicht seine andere Backe ein. Ein nachsichtiges Lächeln kräuselte seine Lippen.
«Aber ein lieber Komödiant», brummte er vor sich hin. «Kinch, der allerliebste Komödiant.»
Sorgfältig rasierte er mit gleichen Strichen weiter, schweigsam, ernst.
Stephan stützte einen Ellbogen auf den schartigen Granit, legte die Hand an die Stirn und sah auf den abgeschabten Rand seines glänzenden, schwarzen Rockärmels. Und Kummer, es war noch kein Liebeskummer, zerfrass ihm das Herz.