Mari Jungstedt
Näher als du denkst - Ein Schweden-Krimi
Aus dem Schwedischen
von Gabriele Haefs
Saga
Näher als du denkst - Ein Schweden-Krimi ÜbersetztGabriele Haefs Copyright ©, 2019 Mari Jungstedt und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726343052
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
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Für meinen Mann Cenneth Niklasson –
Geliebter, bester Freund
Zum ersten Mal seit einer Woche öffnete sich die Wolkendecke. Die müden Novembersonnenstrahlen fanden einen Weg, und die Zuschauer auf der Trabrennbahn von Visby hoben ihnen sehnsüchtig die Gesichter entgegen. Es war das letzte Rennen der Saison, und Erwartung, aber auch ein Hauch Wehmut lagen in der Luft. Ein verfrorenes, doch begeistertes Publikum drängte sich auf den Bankreihen aneinander. Die Zuschauer tranken Bier und Kaffee aus Plastikbechern, aßen heiße Würstchen mit Brot und machten sich im Rennprogramm ihre Notizen.
Henry »Blitz« Dahlström zog seinen Flachmann hervor und trank einen ordentlichen Schluck Schwarzgebrannten. Er verzog angewidert das Gesicht, doch der Fusel wärmte hervorragend. Um Henry herum saß die ganze Bande auf der Tribüne: Bengan, Gunsan, Monica und Kjelle. Alle bereits mehr oder weniger angetrunken.
Die Parade hatte soeben begonnen. Die schnaubenden, schweißglänzenden Warmblüter tänzelten einer nach dem anderen vorüber, während aus den Lautsprechern Musik schallte. Die Fahrer saßen breitbeinig in ihren leichten Sulkys.
Die Ziffern, mit denen auf der schwarzen Anzeigetafel draußen auf der Bahn die Quoten angegeben wurden, tickten weiter.
Henry blätterte im Programm. Er wollte auf Ginger Star im siebten Rennen setzen. Sonst schien offenbar niemand an die erst drei Jahre alte Stute zu glauben. Henry aber hatte sie während des Sommers beobachtet und festgestellt, dass sie trotz der Tendenz, in Galopp zu verfallen, immer besser wurde.
»Hömma Blitz, hassu Pita Queen gesehn, issie nich toll?«, nuschelte Bengan und streckte die Hand nach dem Flachmann aus.
Henry trug den Spitznamen »Blitz«, weil er viele Jahre als Fotograf für die Zeitung Gotlands Tidningar tätig gewesen war, bis sein Leben ganz vom Alkohol bestimmt wurde.
»Scheiße, ja. Bei dem Trainer«, antwortete er und erhob sich, um seinen V-5-Schein abzugeben.
Die Wettschalter mit ihren halb heruntergelassenen Holzläden lagen nebeneinander. Brieftaschen kamen bereitwillig zum Vorschein, Scheine wechselten die Besitzer, und Tippzettel wurden registriert. Eine Treppe höher befand sich das Rennbahnrestaurant, in dem die Stammgäste Steaks verzehrten und Bier tranken. Bekannte Wettspezialisten pafften ihre Zigarren und diskutierten über die Tagesform der Pferde und den Stil der Fahrer.
Langsam rückte der Start näher. Der erste Fahrer grüßte die Schiedsrichter auf ihrem Turm vorschriftsmäßig mit einem Nicken. Der Ansager rief über Lautsprecher zum Start.
Nach vier V-5-Läufen hatte Henry auf seinem Tippzettel ebenso viele Richtige. Mit etwas Glück würde er die ganze Reihe füllen. Und da er außerdem auf die mit hohen Quoten belegte Ginger Star im letzten Rennen gesetzt hatte, rechnete er mit einer ansehnlichen Gewinnsumme. Wenn die Stute nur seine Erwartungen erfüllte!
Der Startschuss fiel, und Henry beobachtete Pferd und Sulky so konzentriert, wie ihm das nach acht Bieren und diversen Schwarzgebrannten überhaupt noch möglich war. Beim Klingeln nach der ersten Runde steigerte sich sein Puls. Ginger Star lief gut, sie lief verdammt gut. Mit jedem Schritt, den sie den beiden Favoriten in der Führung näher kam, wurden ihre Umrisse für Henry schärfer. Der kräftige Hals, die geblähten Nüstern und die nach vorn gelegten Ohren. Sie konnte es schaffen!
Jetzt nicht galoppieren, bloß nicht galoppieren. Er murmelte diese Worte immer wieder, wie ein Mantra. Seine Augen hingen an der jungen Stute, die sich der Spitze mit wütender Energie näherte. Einen Rivalen hatte sie bereits überholt. Da bemerkte Henry plötzlich die Kamera um seinen Hals, und ihm fiel ein, dass er doch fotografieren wollte. Er schoss einige Bilder, und seine Hand war dabei einigermaßen ruhig.
Der rote Sand der Trabrennbahn umstob die Hufe, die sich in wahnwitzigem Tempo weiterbewegten. Die Fahrer schlugen mit den Peitschen auf die Pferde ein, und im Publikum steigerte sich die Erregung. Viele hielt es nicht mehr auf ihren Sitzen, einige klatschten in die Hände, andere schrien.
Ginger Star rückte auf der Außenseite vor und lag Kopf an Kopf mit dem bisher führenden Pferd. Und nun benutzte der Fahrer zum ersten Mal die Peitsche. Dahlström sprang auf und beobachtete das Pferd durch das kalte Auge der Kamera.
Als Ginger Star eine Nasenlänge vor dem absoluten Favoriten durchs Ziel schoss, seufzte das Publikum enttäuscht auf. Henry hörte verstreute Kommentare: »Was zum Teufel!« – »Das darf doch nicht wahr sein!« – »Unglaublich!« – »Einfach Wahnsinn!«
Er selbst ließ sich auf die Bank sinken.
Er hatte die V-5 geholt!
Nach dem hektischen Tag auf der Rennbahn war Ruhe eingekehrt. Nur das Streichen des Besens über den Stallboden war zu hören und die Kiefer der Pferde, die den Abendhafer zermahlten. Fanny Jansson fegte mit kurzen, rhythmischen Strichen. Ihr Körper schmerzte nach der harten Arbeit, und als sie fertig war, ließ sie sich auf den Futterkasten vor Reginas Box sinken. Das Pferd schaute von der Krippe auf. Fanny schob die Hand durch das Gitter und streichelte die weiche Nase.
Das schmächtige Mädchen mit dem dunklen Teint war mittlerweile allein im Stall. Sie hatte es abgelehnt, die anderen ins nahe gelegene Restaurant zu begleiten, um den Abschluss der Saison zu feiern. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie hoch es hergehen würde. Schlimmer noch als sonst. Sie war einige Male mitgegangen, doch es hatte ihr nicht gefallen. Manche Pferdebesitzer tranken zu viel und versuchten, mit Fanny herumzuschäkern. Sie nannten sie »Prinzessin«, legten den Arm um sie und kniffen sie heimlich in den Hintern.
Einige wurden frecher, je mehr sie tranken, kommentierten Fannys Körper, mit Worten und mit Blicken. Sie waren einfach alte Schweine.
Fanny gähnte, hatte aber auch keine Lust, ihr Rad zu nehmen und nach Hause zu fahren. Noch nicht. Ihre Mutter hatte frei, und da war die Gefahr groß, dass sie betrunken war. Wenn sie allein zu Hause war, saß sie sicher mit unzufrieden verzogenem Mund und der Weinflasche auf dem Sofa. Wie immer würde Fanny dann ein schlechtes Gewissen haben, weil sie den Tag mit den Pferden verbracht hatte und nicht mit ihrer Mutter. Ihre Mutter zeigte kein Verständnis dafür, dass an einem Renntag jede Menge Arbeit anfiel. Sie begriff auch nicht, dass Fanny bisweilen aus dem Haus musste. Der Stall war Fannys Rettungsring. Ohne die Pferde wäre sie untergegangen.
Sie wurde unruhig, als sie sich eine noch schlimmere Szene vorstellte: dass ihre Mutter vielleicht nicht allein zu Hause war. Wenn ihr so genannter Freund Jack bei ihr wäre, würden sie sich beide gemeinsam voll laufen lassen, und Fanny würde nicht einschlafen können.
Am nächsten Tag musste sie früh in der Schule sein, und deshalb brauchte sie ihren Schlaf. Die achte Klasse war eine Qual, die sie möglichst schnell hinter sich bringen wollte. Zu Beginn des Schuljahrs hatte sie sich alle Mühe gegeben, aber inzwischen lief es immer schlechter. Sie litt unter Konzentrationsschwierigkeiten und schwänzte recht häufig, hatte ganz einfach keine Lust auf die Schule.
Schließlich hatte sie auch so schon genug Probleme.
Eine Speichelblase hing ihm im Mundwinkel. Bei jedem Ausatmen wurde sie größer,