Rudolf Stratz
Der du von dem Himmel bist
Roman
Saga
Der du von dem Himmel bist
© 1906 Rudolf Stratz
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711507100
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
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I
Von dem kleinen Dachturm des Heidelberger Universitätsgebäudes schlug es langsam sieben-, acht-, neunmal hinaus in Regen und Dunkel der Februarnacht. Eine Minute war es darauf still. Dann bestätigte unsichtbar, hoch vom finsteren Himmel der Klöppel der nahen Jesuitenkirche, dass es neun Uhr Abends sei, und ehe er noch damit zu Ende war, beeilten sich von der anderen Seite, von Westen, St. Peter und Providenz, auch den Protestanten der Neckarstadt die Zeit zu künden. Als Nachzügler brummte und dröhnte drüben, aus der Richtung des Marktes, die uralte Heiliggeistkirche wie seit vielen Jahrhunderten ihr Sprüchlein. Dann herrschte wieder tiefe, schläfrige Ruhe. Der feine, lau rieselnde Winterregen plätscherte in den Dachkandeln und Gossen, die keine Spur von Schnee mehr zeigten — der lag in Heidelberg meist nur oben auf den Waldhöhen, die, jetzt in der Nacht verschwunden, Stadt und Fluss einrahmten — ein feuchter Südwest strich, von der Rheinebene kommend, über den freien Platz zur Seite der Hochschule, in dessen Mitte, von Laternengeflacker notdürftig erhellt und von Nässe triefend, die viel zu kleine Bronzegestalt des alten Kaiser Wilhelm auf einem ebenfalls viel zu kleinen Rösslein ritt. Ausser ihm war nichts auf der Fläche zu bemerken. Menschen gab es nicht. Die hielt der Regen und die späte Stunde daheim. Selbst in der nahen Hauptstrasse zeigten sich nur wenige Fussgänger, selten einmal ein Wagen. Alt-Heidelberg lag im Winterschlaf. Das war nicht mehr „die Feine“, die von Fremden wimmelnde, die im schimmernden Brautgewand ihrer weissen Maienblüte und in ihrem Sommergrün von den Dichtern Verherrlichte, von dem In- und Ausland Angestaunte — das Schosskind und Nesthäkchen unter den deutschen Städten, sondern ein mittleres badisches Amts- und Kreisstädtchen wie viele andere — mit einer jetzt meist von Februarnebel umsponnenen, wenig besuchten Schlossruine und einer Universität.
Vor der hielt jetzt in der Hauptstrasse ein Strassenbahnwagen. Eine junge Dame stieg aus und ging mit raschen, die Gewohnheit dieses Weges verratenden Schritten an dem mittelalterlichen Brunnen vorbei und über die Asphaltfläche, auf der bei Tag die Droschkenkutscher standen, zur Hochschule hin. Aber sie trug keine Kollegienmappe in der Hand, sondern einen Blumenstrauss. Es wäre auch zu spät für eine Vorlesung gewesen. Wohl war das Tor der Ruperto-Carola noch offen und brannte innen in der Vorhalle das Gas und warf seinen Zitterschein über die mit Gelehrtenhand hingekritzelten Anzeigen am schwarzen Brett, die Ankündigungen von Wohnungen und Mittagstischen, von Sprachlehrern und Übersetzern und Dissertationsabschreibern, aber zu sehen war niemand mehr und durch die offenen Türen der Hörsäle gähnten innen im Halbdunkel die leeren Bankreihen.
Olga Ritter warf einen Blick nach oben, die Treppe hinauf, ob da nichts sich rege, und auf ihrem nicht sehr hübschen, eher nervösen und leidenden Gesicht war ein Zug erwartungsvoller Spannung. Als alles still blieb, schüttelte sie ungeduldig den Kopf, klappte wieder ihren Schirm auf und trat ins Dunkel hinaus. Dort bog sie um die Ecke der Hochschule und schritt auf dem freien Platz bis beinahe dahin, wo nach wie vor der kleine bronzene Kaiser und sein Ross den Unbilden der Witterung trotzten. Von hier konnte man die Südfläche des bis zur Ärmlichkeit unansehnlichen Heidelberger Universitätsgebäudes überblicken. Seine Fenster lagen still und schwarz da. Nur zwei von ihnen — hart an der Ecke, wo hinten die Augustinergasse die Hochschule abschloss — waren noch erleuchtet. Ein heller Schein fiel von ihnen aus in die Nacht.
Das beruhigte die Studentin und sie ging langsam mit ihren Blumen, die sie unter dem Schirm schützte, nach dem Haupttor zurück. Dort stiess sie auf eine rasch von der andern Seite nahende Kommilitonin, die auch einen grossen Rosenbusch in der Hand trug, und beide nickten sich zu. Suse Trautvetter, die Medizinerin, war erst zu Anfang der zwanzig, wohl fünf, sechs Jahre jünger als ihre zuerst gekommene Genossin von der philosophischen Fakultät. Ihr hübsches Gesicht war noch unberührt vom Leben, mehr eine glattrosige Kindermaske als die Züge einer Frau. Sie war sehr sorgfältig, für das elende Wetter sogar teuer, aber ganz unauffällig gekleidet, in einer harmlosen Art, die gar nicht auf andere berechnet war, sondern, wie der durch das Studium erworbenen geistigen, so auch der körperlichen Achtung vor sich selber entsprach.
Die beiden gaben sich die Hand. Sie wohnten nebeneinander im selben Hause und sahen sich täglich — aber sie nannten sich „Sie“ und „Fräulein“. Schwärmerische Mädchenfreundschaften wie früher gediehen in diesen neuen, suchenden Seelen kaum. Dazu wehte die Luft der Erkenntnis auf den Höhen der Wissenschaft zu scharf und war der geistige Einfluss der Männer zu nahe und zu stark.
Unwillkürlich verglichen sie einen Augenblick ihre Buketts miteinander, ob sie auch gleichwertig seien, dann versetzte die cand. phil. Olga Ritter: „Die Fenster sind noch hell! ... Sie ist noch mitten drin ...“
„Aber um sieben haben sie doch schon angefangen. Sie muss jetzt doch bald fertig sein!“ sagte die kleine stud. med. Suse Trautvetter.
„Nun ja — zwei Stunden dauert das Doktorexamen doch immer mindestens! Und dazwischen ist noch die Pause.“
„Haben Sie sie denn in der Pause gesprochen?“
„Ja — ich war oben! Im Vorzimmer! Der dicke Pedell hat mich zu ihr hereingelassen!“
„Na — und wie war sie denn? Erzählen Sie doch, Fräulein Ritter!“
„Ach — eigentlich wie immer! Sie regt sich ja selten über etwas auf. Sie sagt, sie sässen eben alle um einen Tisch ’rum — Trenkle und Helmstorff und die anderen und sie und unterhielten sich ganz gemütlich — und dazwischen kämen so die Fragen und meistens wisse sie die Antwort und manchmal auch nicht. Aber da gingen die Herren dann schonend darüber hinweg. Und Helmstorff, der ja als Ethnograph von ihren übrigen Prüfungsfächern nicht die Bohne verstehe, nicke ihr gönnerhaft über den Tisch hin zu, wenn einmal eine Frage käme, die er auch wisse. Aber im ganzen sei er doch mehr in sein gewöhnliches stilles Staunen versunken, was er doch für ein schöner Mann sei, und liebäugle aus Langerweile immer mit seiner Hand mit den blankpolierten, spitzen Nägeln. Sie sei ja lang, aber weiss wie bei einer Frau. Eigentlich habe er überhaupt etwas von einer Frau an sich“ ...
Suse Trautvetter lachte. Sie verstand es vortrefflich, Gesichter zu schneiden und die Professoren nachzumachen, zu deren Füssen sie scheinheilig, emsig kritzelnd und mit gläubigen Augen im Hörsaal sass. Und besonders die Karrikierung des schönen, erst in den Vierzigerjahren stehenden Geheimrats von Helmstorff war ihre Spezialität, wie er auf dem Katheder sich räusperte und seinen langen blonden Bart strich und die Manschetten hervorzog und, ehe er seinen Vortrag begann, einen prüfenden Blick über das Auditorium gleiten liess, in dem sich Kopf an Kopf — viele Damen, viele Engländer und durchreisende Fremde darunter — bis zur Türe hin drängte — eine glänzende Leuchte, ein Halbgott der Hochschule in jedem Zoll seines Wesens — und dabei auch noch Mitglied des Reichstags, an vielen kleinen Höfen wohl angesehen, durch einen bayrischen Orden geadelt, selbst in Berlin bekannt — einer, dem vor dem Neid der Götter grauen konnte.
Und schrecklich sei es für Hedwig nur, berichtete die Philosophin aus dem Examenszimmer weiter, dass der alte Geheimrat Trenkle, Helmstorffs Schwiegervater, neben ihr immerwährend, wenn sie gerade ordentlich im Zug sei und fliessend spreche, zerstreut mit seinem Bleistift Köpfchen auf das weisse Papier vor ihm male — Frauenköpfchen natürlich, mit kühnen Frisuren — man kenne ja die Schwäche des alten Herrn. Aber sie, die Hedwig, mache das Gekritzel ganz nervös. Das