Endstation Engadin
Ein Mord für Massimo Capaul
Kampa
I
Nach dem ersten Schnee und einigen verhangenen Tagen war das schöne Wetter zurück. Das Tal lag kurz vor sechs Uhr früh noch in tiefer Dämmerung, doch der Himmel über den scharfkantigen Bergraten strahlte bereits blau. Einige ganz zarte, rosenrot gefärbte Wolkenschleier durchzogen ihn. Sie erinnerten Capaul an den Brustflaum eines Flamingos und weckten die Fantasie, ein Jungvogel zu sein, der unter warmen, mütterlichen Fittichen dem Leben entgegenfiebert.
An einem solchen Morgen war es unmöglich, noch immer schlechter Laune zu sein. Die bittere Tatsache, sagte sich Capaul, dass er bereits vor seinem eigentlichen Dienstantritt suspendiert worden war, lächerlicher Formfehler wegen, musste man nicht zwingend als Schmach ansehen. Womöglich war Offizier Gislers Befehl: »Setzen Sie sich zu Hause hin und legen Sie die Hände in den Schoß, bis ich entschieden habe, was mit Ihnen geschieht«, nicht einmal eine Strafe, sondern nur der freundliche Rat, sich auszuruhen und Kraft zu tanken für die kommenden Aufgaben als Oberengadiner Polizist.
Im Bad pfiff er kreuz und quer vor sich hin und blieb hängen bei Ich fange nie mehr was an einem Sonntag an, wohl weil gerade Sonntag war. Das musste Bernhild geweckt haben, denn als er in die Wirtsstube kam, war sie schon unten, in Bademantel und ihren grasgrünen Crocs, und deckte sein Feiertagsfrühstück, Café complet mit Aufbackgipfeli aus der Mikrowelle.
»So vergnügt heute?«, fragte sie. »Da hat wohl einer gute Nachrichten?«
»Die brauche ich gar nicht. Das Wetter ist einfach zu herrlich, ich fliege aus. Und zwar nach Bergün, mit der Bahn.«
Während sie auch für sich Kaffee machte, sagte sie auf, was wohl die Engadiner Tourismusbehörde den Gastwirten aufzusagen empfahl: »Hundertvierundvierzig Brücken und Viadukte, zweiundvierzig Tunnels, UNESCO-Kulturerbe. Auf gut einundsechzig Kilometern …« Mit dem Kaffee in der Hand wollte sie sich zu ihm setzen.
Doch Capaul hatte nur im Stehen ein Gipfeli in sich gestopft. Entschuldigend nuschelte er: »Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung«, so hieß ein Buch, das seine Mutter geliebt hatte. Als er merkte, dass er völlig unverständlich war, spülte er mit Kaffee nach, doch dabei verschluckte er sich und musste husten. Und weil er dabei aus Anstand die Lippen zusammenpresste, gerieten ihm Kaffee und Krümel in die Nase.
Während er mit tränennassen Augen nach der Serviette tastete, um sich zu schnäuzen, trank Bernhild stumm ihren Kaffee, dann stellte sie spröde fest: »Es sollen schon Leute an ihrem Kaffee erstickt sein. Gute Fahrt denn, und denk bitte daran, dass immer sonntags die Miete fällig ist.«
Das versprach er, sich immer wieder räuspernd, weil noch immer Krümel in der Luftröhre klebten. Dann verließ er das Wirtshaus Zum Wassermann.
Zuvor las er auf dem Fahrplan der Rhätischen Bahn im Windfang, dass der Frühzug 06:07 schon fort sein musste, deshalb wollte er dorfaufwärts gehen, um beim Bankautomaten Geld zu ziehen. Als er auf die Straße trat, sah er allerdings einen der kurzen roten Züge abfahrbereit im Bahnhof stehen. Und weil der Wassermann nur wenige Schritte von der Station entfernt lag, beschloss er, sein Glück zu versuchen, und rannte los. Einer der Rangierarbeiter, die ihm entgegenkamen, weil sie wohl schon zu so früher Stunde bei Bernhild einkehren wollten, rief ihm etwas zu, vielleicht einen Gruß. Capaul rannte winkend weiter und erreichte glücklich Gleis 2, bevor der Zug anfuhr.
Er hatte sich ausgemalt, dass der erste Zug sonntags sicherlich leer sein würde, und wollte während der Fahrt durch den menschenleeren Zugwagon schlendern, mal auf dieser, mal auf jener Seite die Aussicht genießen, wie es ihm eben passte. Er wollte ein wenig Herr über eine dieser kleinen bulligen Maschinen spielen, die jeden Tag emsig und so unbeirrbar wie Steinböcke die Berghänge und Klüfte der Bündner Alpen bezwangen.
Daraus wurde nichts. Zwar war es tatsächlich der Frühzug, der mit bollerndem Motor auf Gleis 2 wartete, doch augenscheinlich waren die Fahrgäste – und das waren nicht etwa zwei, drei – gebeten worden, wieder auszusteigen. Denn das Perron war gut gefüllt mit Männern in der zweiten Lebenshälfte, offenbar einer Reisegruppe, die wiederum in verschiedenen Grüppchen beisammenstanden und fröhlich wie eine Grundschulklasse plauderten. Die meisten trugen über der Jacke ein rotes T-Shirt in XXXL, entweder mit der Aufschrift Albula II Juhei oder RhB, was wotsch no meh. Einige hatten ein RhB-Käppi auf, einer einen Kondukteurshut. Generell wurde Schweizerdeutsch gesprochen, einige schienen Franzosen oder Romands zu sein, und einer sprach eine Sprache, die Capaul nicht identifizieren konnte, aber es schien ihn auch sonst keiner zu verstehen. Dazwischen entdeckte Capaul drei vereinzelte Jäger mit Flinte und Rucksack, die stumm vor sich hin starrten.
Ein vergnügtes Quartett stand vorn bei der Lok, offenbar gab es dem Lokführer ein Ständchen.
Ȇsri RhB
Hät es Tunnel meh.
Ganz bequem und lässig
Fahred mir vu A nach B.«
Capaul erkundigte sich bei einem der Jäger: »Sagen Sie, gibt es ein Problem?«
»Nicht, solange ich nicht mitsingen muss«, murmelte der Jäger und blickte weiter vor sich hin.
»Ich meine, mit dem Zug. Ist etwas kaputt?«
Der Jäger sah ihn mit steingrauen Augen an, er hatte noch Schlaf in den Augenwinkeln.
»Die müssen wohl noch Material von den Schienen räumen, das ist beim ersten Zug nicht unüblich.«
»Material?«
»Ja, Material.« Der Jäger wandte sich ab und fixierte die Perronkante.
»Was muss ich unter Material verstehen?«
Der Grauäugige stieß hörbar Luft aus der Nase und lieh ihm nochmals einen kurzen, müden, vielleicht auch gereizten Blick. »Material halt. Steine, Dreck. Was so runterkommt. Die Berge, das ist nichts Festes, die sind stets in Bewegung. Das Gestein fließt. In einer Million Jahre wird hier alles flach sein. Weil sich eben dauernd Material löst.«
Eine Eisenbahnpfeife schrillte. Die Kontrolleurin stand auf der obersten Stufe der nächstgelegenen Wagontür und rief: »Sie können nun doch einsteigen, die Strecke ist jetzt freigegeben.«
Ohne ein Zeichen der Erleichterung setzte der Jäger sich in Bewegung und stieg dort ein, wo sie stand. Capaul folgte ihm.
Die Kontrolleurin stand so, dass sie den Fahrgästen beim Einsteigen behilflich sein konnte, natürlich lehnte Capaul das ab. Janine Hess, Zugchefin, stand auf ihrem Namensschild. Sie konnte kaum älter als zwanzig sein und wirkte trotz der frühen Stunde ausgesprochen munter.
»Wo kam denn das Material herab?«, erkundigte sich Capaul, doch sie schien ihn nicht zu hören, sondern konzentrierte sich ganz auf die nächsten Passagiere. Ausnahmslos alle erklommen die Treppe ohne ihre Hilfe, manche betont sportlich. Nachdem Capaul noch kurz gewartet hatte, ob vielleicht doch noch eine Antwort kam, suchte er sich einen Sitzplatz.
Der Wagon war einer der gemütlichen alten, mit herunterziehbaren Fenstern und abgewetzten Rippstoffbänken ausstaffierten Zweitklasswagen, es roch anheimelnd nach einer Mischung aus Gummi, Putzmittel und letzten Spuren von Rauch. Während Capaul sich einen Fensterplatz eroberte und hinaussah, fuhr der Zug an. Inzwischen tauchte die Morgensonne die ersten Gipfel in aprikosenfarbenes Licht, das Wolkengefieder hatte sich fast gänzlich aufgelöst. Nur über dem Bett des Inn lag blasser Dunst, und einige Krähen stritten um etwas, das Capaul nicht erkennen konnte.
In seinem Rücken betrat Janine Hess den Wagon, schloss schwungvoll die Tür und rief: »Die Fahrkarten bitte!« Capaul saß gleich im ersten Abteil.
»Es kam kein Material herab, es war ein Tier auf der Strecke«, sagte sie, als sie ihn sah.
Das verwunderte Capaul: »Welches Tier ist so schwer von der Strecke zu jagen? Wir haben eine halbe Stunde Verspätung.«
Der Gast neben ihm warf ein: »Bei S-chanf war mal ein Esel auf der Strecke. Der Bauer rannte hinterher, so liefen sie bis Zuoz, der Esel war nicht vom Gleis zu kriegen.«