Dieser Gedanke erinnerte mich daran, welchen Selbstzweifeln ich mich in letzter Zeit ausgesetzt sah. Wer war ich wirklich? Ich verfügte über die Gedanken und Erinnerungen des Original-Atlans, mehr noch: Ich dachte wie das Original, ich fühlte wie das Original.
Ich war Atlan.
Nur besser. Optimiert.
Ich war Opt-Atlan.
Und die Jasmyne, die gerade operiert wurde, war die einzige Jasmyne.
Ein metallisches Klicken riss mich aus meiner besinnlichen Betrachtung.
Dr. Gregorius hatte das kleine Implantat in eine OP-Schale fallen lassen und schickte sich an, die Öffnung in der Schädeldecke wieder zu verschließen. Er arbeitete weiterhin zielgerichtet und gelassen. Wenige Sekunden später wies nichts mehr darauf hin, dass sich Jasmyne einer Gehirnoperation unterzogen hatte.
»Ich halte es für ratsam, dass die Patientin noch etwas ruht«, sagte der Mediker. »In einer Stunde werde ich sie aufwecken. So lange musst du dich gedulden.«
Ich verzichtete auf die Frage, ob sie alles gut überstanden hatte. Andernfalls hätte Gregorius es mir von sich aus gesagt.
»In einer Stunde also.« Ich verließ den Medoraum.
Einen Moment lang blieb ich vor der Tür stehen. Was hätte Atlan in meiner Lage getan?, fragte ich mich. Es lag mir fern, eine Stunde lang müßig durch die Gänge zu schlendern. So viel Zeit konnte und wollte ich nicht verschwenden.
Pläne schmieden, dachte ich. Die Lage erörtern, Gedankenspiele betreiben. Aber nicht allein. Was willst du als Nächstes unternehmen? Wie soll der nächste Schritt aussehen.
Ja, das kam mir logisch vor.
Zieh jemanden hinzu, mit dem du fast gleichwertig diskutieren kannst. Holger Bendisson zum Beispiel.
Der eigentliche Kommandant der THORA.
Eine gute Wahl. Manchmal. Manchmal auch nicht.
Bendisson hatte zwei Seiten. Einerseits war er in kritischen Situationen ein besonnener Kommandant, der ruhig und gelassen reagierte und stets das große Gesamtbild im Auge hatte. Andererseits erwies er sich bei manchen Gesprächen als unglaublich naiv und begriffsstutzig.
Fast hätte ich auf meine Brust getippt, um den Interkom zu aktivieren, doch das war eine falsche Erinnerung, wie ich noch rechtzeitig erkannte. Ich aktivierte das Armband-Funkgerät.
»Holger Bendisson, komm bitte sofort in den Lustgarten«, bat ich. »Wir müssen unsere Ziele abstecken.«
*
Bendisson begrüßte mich mit einem Lächeln. Das war nicht ungewöhnlich; er lächelte eigentlich immer.
Bevor ich zur Sache kam, ließ ich den Blick kurz über den Lustgarten schweifen. An ihm ließ sich die Veränderung, die das Schiff durchlief, sehr deutlich erkennen. Mittlerweile ging sie weit über das ursprüngliche Biotop des Lustgartens hinaus.
Die Landschaft war eine breite und sanft gewellte Wiesenfläche, die sich rund um die Zentralkugel zog. In einem Abstand von 200 Metern hatte der Cairaner Ammu Avvagadse dort 14 vierseitige, goldene Pyramiden errichtet – jede maß drei Meter an den Kanten und zwölf Meter in der Höhe. Die Pyramidenspitzen waren von einem violetten Gespinst überzogen, das mittels einiger Stränge mit den jeweils benachbarten Pyramiden verbunden waren. Jenes Gespinst bestand aus IPEV-Psikolon und verstärkte den Empfang und die Abstrahlung von Gehirn- und Aura-Impulsen um fast das Zehnfache.
Zwischen den Pyramiden stand jeweils ein kuppelförmiges Gebäude mit unterschiedlichen Abmessungen. Die Gebilde waren zwischen fünf und 25 Metern hoch und hatten einen Durchmesser zwischen zehn und 50 Metern. Die Dächer waren mit kelchartigen Ornamenten versehen.
Das alles war der Kern des Supramentums und das sichtbare Element des Para-Kollektors. Vervollständigt wurde das Supramentum durch die THORA selbst, deren Besatzung und mich.
Im Kollektor wurden wichtige Module wie die Zerebral-Extrakte gesammelt, Gehirne und Hirnsegmente von Báalols, Olubfanern, sogar von einigen Thesanit.
Immens wichtig dabei waren darüber hinaus die Speicherbänke für Vitalenergie.
Und um genau die ging es mir nun. Sie mussten dringend gefüllt werden und bleiben, damit die THORA ihre Aufgabe erfüllen konnte.
Mittlerweile konnte man die Optimierungen überall an Bord der THORA bemerken. Ich schätzte, dass dadurch Reichweite und Wirkbereich mittlerweile um zehn Prozent erweitert worden waren, allerdings zulasten der Wirkwahrscheinlichkeit für unsere Aagenfelt-Systeme.
Diese Optimierungen waren keine Zauberei, die von außen auf uns einwirkte, sondern wir nahmen sie selbst vor – was ihnen allerdings gewisse Grenzen setzte.
Ich deutete auf eine Parkbank mit Blick auf eine der Kuppeln, und Bendisson nahm Platz. Ich setzte mich neben ihn.
Sein Lächeln wurde irgendwie ... versonnen. »Ist unser Streben nach Verbesserung tatsächlich die Folge einer Einwirkung der Organoide?«, fragte er zu meiner Überraschung.
Ich zog die Brauen hoch. Ich war nicht hier, um mit ihm philosophische Auslotungen zu betreiben, doch dass er dieses Thema ansprach, bewies mir erneut, dass er sich mitunter wesentlich tiefer gehende Gedanken machte als der Großteil der Besatzung.
»Worauf willst du hinaus?«
»Dieses Streben scheint mir eine genetisch eingetragene Veränderung zu sein.« Eine gewisse Begeisterung schwang in seiner Stimme mit. »Wir sind besser, und wir sollen besser sein!«
»Natürlich«, pflichtete ich ihm bei. »Hast du je daran gezweifelt?«
»Das nicht ...« Er stockte. Etwas lag ihm auf dem Herzen, und er versuchte verzweifelt, es in Worte zu fassen.
»Geht es dir darum, dass wir Kunstprodukte sind?«, fragte ich. »Bereitet dir das Sorgen? Dann solltest du sie vergessen. In uns erfährt der blinde Wille der Natur durch Eliminierung alles Zufälligkeiten seine Verbesserung und Krönung. Wir sind der Hyperkristall der Schöpfung!«
»Genau darum geht es.« Er lächelte traurig. »Wäre es dann nicht folgerichtig, unserer Existenz ein Ende zu setzen? Uns selbst zu entleiben, weil unser Leben sinnlos geworden ist? Es geht für uns nicht höher hinaus, wir sind am Ende der Schöpfung angekommen.«
»Aber nein«, sagte ich. »Im Gegenteil. Ich empfinde meine Existenz sogar als außerordentlich, als beispiellos sinnvoll!«
»Allerdings würde es unsere Würde mindern, als Optimierte nun noch jemandem zu Diensten zu sein. Die von unseren Produzenten ...«
»Geburtshelfern«, korrigierte ich ihn.
»... von unseren Geburtshelfern programmierten Verbesserungen hatten den Sinn, die Opt-Geschöpfe zu instrumentalisieren ...«
»Davon kann selbstverständlich keine Rede mehr sein!«
Bendisson dachte darüber nach, nickte schließlich. Aber ich spürte, dass sich diese Erkenntnis noch nicht vollständig in ihm verwurzelt hatte. Er würde eine Weile brauchen, bis er sie und seine Rolle im Spiel der Evolution akzeptieren konnte.
»Verzeih«, sagte er. »Du hast mich nicht hierhergebeten, um solche Themen mit mir zu erörtern, nicht wahr?«
»In der Tat nicht. Wir müssen uns den Gegebenheiten stellen, und die sehen so aus, dass die THORA noch etwas braucht, um als Supramentum zu funktionieren.«
»Vitalenergie«, sagte der Kommandant.
»Vitalenergie«, bestätigte ich, »wie sie zwar auch in Atlans Zellaktivator gespeichert ist, aber dort in unzugänglicher Art und Weise.«
»Zugänglich ist die Vitalenergie allerdings auf den Ausweglosen Straßen«, sagte der Kommandant nachdenklich.
»Dort wird sie von den Vital-Suppressoren gewonnen und mithilfe von bestimmten