Otto von Gottberg
Frauenschneider Gutschmidt
Roman
Saga
Frauenschneider Gutschmidt
© 1916 Otto von Gottberg
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711529973
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
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1.
Seufzend kehrte Frau von Hemmern sich von der Schreibtischplatte nach links zum Fenster und blinzelte durch das Glas von Brille und Scheibe in die Königgrätzer Strasse. Es ging mit dem Lesen nicht mehr. Wie eben die Ziffern auf den Rechnungen durcheinander tanzten, verschwamm jetzt auch die Aufschrift eines in Höhe ihres Kopfes vorbeihuschenden Strassenbahnwagens. Wahrscheinlich sollte sich anderen lebenslänglichen Leiden Blindheit gesellen. Sie wendete sich wieder ins Zimmer und suchte mit den müden Augen im stubenbleichen Gesicht unter grauen Haaren die Dienerin, die am dritten, der Herrin fernsten Fenster der Stube nähte:
„Kunze.“
„Jawohl, gnädige Baronin,“ antwortete das immer fröhliche Stimmchen aus der Ecke. Eine Schere in der Hand trippelte die hagere Kleine an den Schreibtisch zur Herrin. Seltam, dass das Gesicht der Gleichaltrigen mit stets munterem Lachen noch so gesunde Farbe trug. Rot wie Borsdorfer Äpfel leuchteten die vollen Backen unter weisser Kappe.
„Kunze, wir müssen zum Augenarzt. Ich werde blind.“
Wohl klang Seufzen, aber auch Behagen durch der Herrin Stimme. Sie war nur zufrieden, wenn sie zu leiden glaubte. Doch kränkelte sie genug und durfte sich nicht noch Sorgen um ihr Augenlicht machen.
„I bewahre, Frau Baronin. Es beginnt zu dunkeln.“
Die Herrin schüttelte den Kopf:
„Um vier Uhr? Und vergessen Sie auch nicht, dass ich einnehmen muss?“
„Nein, nein! Ich habe es doch seit nun fünfundzwanzig Jahren nie vergessen. Noch fehlen fünf Minuten an Vier, aber es ist Januar und trübes Wetter. Ich mache Licht, dann können Frau Baronin lesen.“
„Versuchen werde ich es, Kunze.“
Sie sprach, als sei sie der nicht nur festen, sondern eigentlich auch frohen Überzeugung, dass sie im hellsten Licht nie wieder deutlich sehen werde.
Die Kunze schaltete das Licht ein und schloss die Vorhänge der drei Fenster.
„Geht es?“
Die Herrin senkte das Gesicht wieder über den Schreibtisch und ein Päckchen loser Blätter, das zwischen Pillenbüchsen und Arzneiflaschen, zwischen Apothekerschachteln alt und neu, gross und klein kaum Platz fand.
„Es geht wirklich, Kunze! Aber zum Augenarzt müssen wir doch. Es sollte vielleicht eine Warnung sein und vorbeugen kann nie schaden.“
„Ja, Frau Baronin. Darum nehme ich immer die Medizin mit und bleibe gesund. Wenn ich aber krank werde, habe ich es schon in mir.“
„Das hat was für sich, Kunze! Doch die Ärzte wollen es nicht wahr haben. Ist es endlich Zeit?“
„Schlag Vier,“ nickte die Dienerin und trippelte zum Tisch in der Ecke neben der Tür, nahm zwei von den Löffeln, die um eine entkorkte Flasche Nauheimer Sprudel lagen, und trug sie zum Schreibtisch. Einen füllte sie langsam aus der vor einer Stunde vom Apotheker gefüllten Flasche und hielt ihn unter die Nase. Nach Lakritzen roch der dickflüssige Saft. Der Doktor hatte wohl wieder gedacht, die Krankheit sei nicht schlimm. Überhaupt die Ärzte! Manche nahmen der Herrin das einzige Glück und meinten, sie sei gar nicht krank. Der alte Geheimrat freilich drohte immer gleich mit dem Schlaganfall.
„Hier, gnädige Baronin.“
Der Herrin hielt sie jetzt den Löffel unter die Nase.
„Riecht nicht schlecht. Aber probieren Sie erst, Kunze!“
Wie die Kunze nur den Mut fand, eine ungekostete Medizin so schnell zu verschlucken! Als ob es ihr Vergnügen mache, schmatzte sie mit den Lippen:
„Wird schmecken, Frau Baronin!“
Mit fast ungeduldiger Hast griff die Herrin nach dem zweiten Löffel und liess ihn füllen. Die Augen schliessend, schlürfte sie langsam die braune Lösung und holte mit der Zunge den letzten Tropfen von der Oberlippe. Heiterer als vorher blickte sie auf:
„Dass das Rezept nicht verlorengeht, Kunze! Wirklich einmal was Gutes, — süss, aber nicht widerlich, denn es hat Pikantes. Überhaupt gefällt mir der neue Doktor. Vielleicht weiss er auch was Wohlschmeckendes für die Augen. Hat er denn wirklich gesagt, nur alle zwei Stunden einen Esslöffel?“
„Das hat er gesagt, Frau Baronin, und steht auf der Flasche.“
Frau von Hemmern rückte enttäuscht an der Brille. Ihre Brauen stiegen zur gerunzelten Stirn:
„So sind sie. Ist es bitter, dann sagen sie: alle dreissig Minuten. Schmeckt es aber gut, dann steht drauf: dreimal täglich. Nehmen wir den nächsten Löffel um halb Sechs. Eine halbe Stunde ist keine Stunde und zu zeitig kann nicht schaden. Um Fünf bekomme ich auch Pillen.“
Sie griff wieder nach den Blättern auf dem Schreibtisch, beugte sich über die seit Neujahr eingegangenen Rechnungen und sonderte sie. Auf ein Blatt Papier schrieb sie dann zwei Zahlenreihen und addierte ihre Posten. Die Ziffer links nannte die für den Haushalt verbrauchte Summe und die andere das von ihrer Tochter Frida verausgabte Geld.
Es war erstaunlich viel. Kopfschüttelnd barg sie das Gesicht zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, lüftete mit der linken den Vorhang und starrte betrübt in den schmutziggelben, zertretenen Schnee auf dem Strassendamm.
Fridas Kleidung kostete kaum weniger als der Haushalt.
Frau von Hemmern nahm die Brille ab. Obschon sich die Blindheit des Alters meldete, schien sie ohne Gläser die auf dem jenseitigen Bürgersteig zum Bahnhof wandernde Schar munterer Soldaten in Grau am klarsten zu sehen. Die Pakete unter den Armen oder am Tornister sollten einen Rest der Urlaubsfreude in die Kampfstellung tragen. Zeitungsjungen boten den ein Lied Anstimmenden Nachmittagsblätter an. Sie dankten lachend. Immer sangen und lachten sie noch, obwohl der grausige Krieg schon sechs Monate währte.
„Kunze, ist der Nachmittagsbericht da?“
„Nein, Frau Baronin!“
„Dass Sie ihn durchlesen, ehe ich ihn sehe! Schlimmes mag ich nicht hören. Es regt mich auf, und siegen müssen wir doch! So heisst es ja, und darum leben die Leute, als wäre Frieden, gehen ins Theater und sparen weder mit Geld noch Butter und Brot. Wozu? Siegen müssen wir doch!“
Ein zweispänniger Wagen kam vor dem Haus zu halten. Das Knallen der Kutscherpeitsche rief nach dem Pförtner.
„Kunze, meine Tochter kommt, ich möchte sie sprechen.“
Nur eine Minute verging, bis Frida eintrat. Das Bild, das sie im Türrahmen bot, liess fast den Kummer über ihr verschwenderisches Geldausgeben vergessen. Für Luxus geboren und geschaffen schien das schöne Kind. Vom Chinchillamützchen auf blauschwarzem Haar bis herunter zu den Schuhen war sie gekleidet in Grau von harmonisch abgetönten Schattierungen. Als sie mit heiterem Grusswort an den Schreibtisch trat, schien der breite weisse Rahmen ihrer lachenden braunen Augen das dunkelhäutige Gesicht zu erhellen. Die Hände blieben im Muff, während sie sich zum Kuss gegen die Stirn der Mutter neigte. Dann stand sie in Erwartung, das Kinn auf hohem Hals ein