Frederick Marryat
Die Ansiedler in Kanada
Saga
I.
Es war im Jahre 1794, als eine englische Familie sich zur Niederlassung in Kanada anschickte. Diese Provinz war uns von den Franzosen abgetreten, welche sie seit 30 Jahre kolonisierten. Eine Ansiedlung in Kanada war zu jener Zeit eine andere Sache, als in unseren Tagen. Die Transportschwierigkeiten und die damit verknüpften Gefahren waren bedeutend, denn noch hatte man keine Dampfschiffe, um gegen den Strom der Flüsse zu fahren und gegen die Stromschnellen anzukämpfen; noch hatten die Indianer ganze Teile von Kanada inne; wilde Tiere verheerten das Land; Europäer waren in geringerer Zahl vertreten, deren größerer Teil aus Franzosen bestand, die mißvergnügt darüber waren, daß die Engländer das Land erobert hatten. Eine Anzahl englischer Kolonisten war bereits eingetroffen und hatte sich auf verschiedenen Farmen niedergelassen, doch da die französischen Ansiedler die besten Landstriche Unterkanadas besaßen, sahen sich die neuen Ankömmlinge genötigt, nach Oberkanada zu gehen; dort war der Boden zwar besser, allein die Entfernung von Quebec und Montreal eine so beträchtliche, daß sie, ganz auf Selbsthilfe angewiesen, fast ohne Schutz dastanden.
Mr. Campbell war von gutem Herkommen, doch da sein Vater — als Sproß eines jüngeren Zweiges der Familie — nicht reich war, wurde Mr. Campbell für den Beruf eines Wundarztes erzogen. Nachdem er die Hospitäler absolviert, ließ er sich selbständig nieder und galt schon nach wenigen Jahren für einen in seinem Fache besonders tüchtigen Mann. Seine Praxis wuchs und noch vor dem dreißigsten Jahre verheiratete er sich. Er besaß eine Schwester, die nach dem Tode beider Eltern bei ihm lebte. Etwa fünf Jahre nach seiner eigenen Verheiratung bewarb sich ein junger Mann um sie, der zwar nicht reich war, aber wegen seines tadellosen Charakters und guter Aussichten ihr Jawort erhielt. Miß Campbell vertauschte ihren Namen mit dem einer Mrs. Percival und verließ das Haus ihres Bruders, um ihrem Gatten zu folgen. Schnell schwand die Zeit und nach Verlauf von zehn Jahren sah sich Mr. Campbell als vielbeschäftigter Arzt und als Haupt einer größeren Familie, denn seine Frau hatte ihn mit vier Knaben beschenkt, von denen der jüngste erst wenige Monate zählte.
Obwohl so glücklich in den eigenen Verhältnissen, wurde Mr. Campbell von einem harten Schlage betroffen. Es war der Verlust seiner Schwester Mrs. Percival, an der er innig gehangen hatte. Ihr Tod war von Umständen begleitet, die ihn um so trauriger erscheinen ließen, denn vor ihrem Hinscheiden fallierte das Geschäft, dessen Teilhaber ihr Mann gewesen war; letzterer verfiel infolge vieler Arbeit und Sorgen in ein heftiges Fieber, das mit seinem Tode endigte. In tiefster Trauer wurde die Witwe, die ihre zweite Entbindung erwartete, mit ihrem ersten Kinde, einem zweijährigen Mädchen, in das Haus ihres Bruders gebracht, der mit seiner Gattin sein möglichstes tat, um sie zu trösten. Doch sie hatte durch den Verlust ihres Mannes zu schwer gelitten, ihre Kräfte waren erschöpft, und sie starb bald darauf, nachdem sie einer zweiten Tochter das Leben geschenkt. Mr. und Mrs. Campbell nahmen die beiden Waisen in ihre Obhut und erzogen sie mit den eigenen Kindern.
So lagen die Dinge, als ein unerwartetes, aber willkommenes Ereignis eintrat.
Mr. Campbell war von seinen ärztlichen Besuchen heimgekehrt und saß nach dem Mittagessen im Kreise seiner Familie. Man hatte nach der Kinderfrau geklingelt, damit sie die beiden kleinen Mädchen und den jüngsten Knaben herunterbringen sollte, als der Postbote anklopfte und einen Brief mit einem großen schwarzen Siegel überbrachte.
Mr. Campbell öffnete ihn und las folgendes:
Mein Herr!
Wir beehren uns Ihnen mitzuteilen, daß nach dem am 19ten vergangenen Monats erfolgten Ableben Mr. Sholto Campbells auf Wexton-Hall in Cumberland die von demselben hinterlassenen Güter an Sie als den nächsten des Geschlechtes gefallen sind, da man von dem ursprünglichen Erben seit zwanzig Jahren nichts gehört hat. Derselbe ist mutmaßlich zur See oder in Ostindien umgekommen. Wir bitten demnach, Sie als die ersten zur Erlangung eines Einkommens von 14 000 Lstr. jährlich beglückwünschen zu dürfen. Ein Testament ist nicht gefunden worden, und man hat sich vergewissert, daß ein solches von dem verstorbenen Mr. Sholto Campbell niemals gemacht worden ist. Wir haben daher den persönlichen Nachlaß versiegelt und erwarten Ihre Bestimmungen. Noch fügen wir hinzu, daß, falls Sie geschäftlichen Rat bedürfen und mit solchem nicht bereits versehen sein sollten, Sie nur zu gebieten haben über Ihre
gehorsamsten Diener
Harvey, Paxton und Co.
„Was hast du nur, mein Lieber?“ rief Mrs. Campbell, die in ihres Gatten Miene die ungewöhnliche Erregung bemerkt hatte.
Mr. Campbell antwortete nicht, sondern reichte seiner Frau den Brief.
Mrs. Campbell las ihn und legte ihn auf den Tisch. „Nun, meine Liebe?“ fragte Mr. Campbell.
„Ein unerwartetes Ereignis!“ versetzte Mrs. Campbell bedachtsam. „Oft habe ich daran gedacht, daß wir dem Unglücke gegenüber gewappnet sein müßten. Ich hoffe zu Gott, daß wir ebenso gut gerüstet sind, das Glück zu empfangen — die bei weitem schwerere Aufgabe, mein lieber Campbell.“
„Du hast recht, Emilie“, erwiderte Campbell, „wir sind glücklich und waren es schon lange.“
„Dieser Reichtum kann unser Glück nicht vermehren, lieber Mann; ich weiß, er wird nur unsere Sorgen vergrößern; doch laß uns ihn, in der Hoffnung, das Glück anderer damit fördern zu können, mit Dankbarkeit empfangen.“
„Sehr richtig, Emilie; wir müssen unsere Pflicht im Leben auf dem Platze tun, auf den Gott uns gestellt hat. Bisher durfte ich meinen Mitmenschen in meinem Berufe nützen, und wenn ich künftig nicht mehr mein warmes Bett verlasse, um ihre Leiden zu lindern, so werde ich die Mittel besitzen, ihnen in anderer Weise zu helfen. Wir dürfen uns nur als Diener dessen ansehen, der uns diesen Reichtum geschenkt hat!“
„Nun spricht mein Gatte, wie ich es von ihm voraussetzte“, rief Mrs. Campbell und erhob sich, ihn zu umarmen. „Wer so wie du empfindet, kann niemals zu reich sein.“
Mr. Campbell nahm Wexton Hall in Besitz und lebte dort in einer Weise fort, die seinem vermehrten Einkommen entsprach; er ließ keine Gelegenheit vorübergehen, Gutes zu tun, wobei seine Frau ihn bereitwillig unterstützte. Mrs. und Mr. Campbell wurden schon nach drei bis vier Jahren als ein Segen für die Gegend angesehen, denn sie förderten die Gewerbe, unterstützten die Bedürftigen, trösteten die Unglücklichen, errichteten Armenhäuser und Schulen, sie taten, was in ihrer Macht stand, um Wohlstand und Glück aller derer zu sichern, die im Umkreise vieler Meilen von Wexton Hall lebten. Als Mr. Campbell das Gut übernahm, befand es sich in vernachlässigtem Zustande und es mußten große Summen hineingesteckt werden, wodurch der Wert des Gutes sehr erhöht wurde.
Auf diese Art wurde Mr. Campbells großes Einkommen nützlich und vorteilhaft verwandt. Natürlich änderten sich mit dem Wechsel der Vermögenslage auch die Zukunftspläne für seine Kinder. Henry, der Älteste, der für den Beruf seines Vaters bestimmt gewesen war, wurde einem Privatlehrer übergeben und später auf das Kolleg geschickt. Alfred, der zweite Knabe, hatte sich zum Seemanne entschieden und war an Bord einer Fregatte gegangen. Die beiden jüngsten Knaben, von denen der eine, Percival, über zwei Jahre, der andere, John, erst wenige Monate alt war, als der Vater die Erbschaft antrat, blieben zu Hause und wurden von einem jungen Pfarrer unterrichtet. Für Mary und Emma Percival, die sich als hübsche und gescheite Mädchen entwickelten, wurde eine Erzieherin angestellt. Zehn Jahre befand sich Mr. Campbell bereits im Besitze des Gutes, als ihn eines Tages Mr. Harvey besuchte, der Chef jener Firma, die ihm damals seine Erbschaft angekündigt hatte. Er kam, um ihm mitzuteilen, daß jemand aufgetaucht sei, der sich für den Sohn des verstorbenen rechtmäßigen Erben ausgebe, und die Absicht hege eine Klageschrift gegen ihn einzureichen, um das Besitztum für sich zu fordern. Mr. Harvey äußerte, daß er es für seine Pflicht hielte, Mr. Campbell hiervon in Kenntnis zu setzen, er der Sache aber keinerlei Bedeutung beilege, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach als Betrug irgend eines Winkeladvokaten herausstellen würde, der auf einen Vergleich rechnete. — Er bat Mr. Campbell, sich keinesfalls zu beunruhigen und versprach, so bald er Näheres höre, sogleich Mitteilung darüber zu machen. Da Mr. Harvey die Angelegenheit so leicht nahm, erwog auch Mr. Campbell dieselbe kaum weiter in Gedanken und