Gernot Wagner
STADT
LAND
KLIMA
Warum wir nur mit einem urbanen Leben die Erde retten
Inhalt
Von Stelzenhäusern und Passivhausluftschlössern, der wunderbaren Welt der Klimabuchhaltung und unserem Natursch(m)utz
Ein Liebesbrief an die Stadt und einer an das Land, über das Wohnen im „Na ja, eigentlich“, kontraproduktive Klimapolitik und die Stadt als Idee, in der wir das wahre Klimapotenzial finden
Über lokales Essen und globales Denken, Quadratmeterfragen und Bumerang-Effekte, Abenteuerreisen, die Qual des Pendelns und Mobilität als Chance
Der Fußabdruckrechner und die Erdöllobbys, Moral und CO2-Absolution und eine Einladung: Beginnen wir beim individuellen Handeln, sorgen wir aber für einen Systemwandel!
Vor(w)ort
Kaffee, Kuchen – und Quadratmeter
Als ich noch klein war, bekamen wir an Sonntagnachmittagen oft Besuch. Das ist bei einer großen Familie mit einem Dutzend Onkeln und Tanten nun einmal so. Sogar die Tante aus dem fernen Berlin und der Onkel aus München kamen zu uns nach Amstetten im Westen Niederösterreichs. Es kamen nie alle zusammen, und nicht alle gleich oft. Aber fast an jedem Wochenende saßen die Erwachsenen rund um den Tisch im Esszimmer oder jenen auf der Terrasse oder auch um den draußen im Garten. Sie aßen Muttis Kuchen, tranken Vatis Kaffee und unterhielten sich angeregt.
Damals, als Kind in den Achtzigerjahren, habe ich nicht weiter darüber nachgedacht, warum so viele der sonntäglichen Familien-Kaffeekränzchen bei uns zu Hause stattfanden. Waren wir selbst vielleicht so schlechte Hausgäste? Oder schmeckten Kaffee oder Kuchen bei uns einfach am besten? Erst Jahre später wurde es mir klar: Der Hauptgrund waren unsere 78 Quadratmeter Wohnfläche.
Diese 78 Quadratmeter waren groß genug, um den Besuch bequem zu Tisch zu bitten. Sie waren auch deutlich mehr als die 48 Quadratmeter in der Stadtwohnung, in der bis zu zehn meiner Onkel und Tanten gleichzeitig ihre Kindheit verbracht hatten. Es waren zwar nur 15 Minuten Fußweg von dieser Wohnung zu uns in die kleine Vorortsiedlung – doch die Größensteigerung war enorm.
Gleichzeitig waren die 78 Quadratmeter immer noch bescheiden genug, um nicht selbst zum dominierenden Gesprächsthema zu werden. Sie waren nicht das großzügige Haus in Hanglage, wo man sich sonntags vielleicht über die Größe des Swimmingpools unterhalten hätte. Sie waren auch nicht das noch weitläufigere Haus unten an der Donau, wo die „Jahrhundert“-Hochwasser inzwischen – bedingt durch den Klimawandel – alle paar Jahre kamen und das Erdgeschoss daher immer regelmäßiger renoviert werden musste: zwei Mal alleine in den zehn oder zwölf Jahren meiner Kindheit und Jugend, an die ich mich gut erinnern kann. Selbst abseits notwendiger Renovierungen ließ sich das große Haus als eigenes Gesprächsthema nicht vermeiden: Noch vor der Frage, ob man Kaffee oder lieber Tee wolle, kam die Frage, ob wir in der Wohnküche, im vorderen oder doch lieber im hinteren Wohnzimmer Platz nehmen sollten.
Unsere 78 Quadratmeter Wohnfläche waren vor allem eines: Durchschnitt. Guter Mittelklasse-Durchschnitt. Sie drängten sich nie direkt in den Vordergrund.
Diese 78 Quadratmeter waren das ideale Zuhause für unsere vierköpfige Familie. Ein Schlafzimmer, ein Kinderzimmer, Wohnzimmer, Esszimmer, Küche, Toilette und Bad. Wohlgemerkt eine Toilette – nicht etwa zwei oder gar vier, die mittlerweile in vielen amerikanischen Vororten und Vorstädten, meist kollektiv Suburbs genannt, zum Goldstandard geworden sind: für jedes Kind ein eigenes Schlafzimmer mit eigener Toilette und eigenem Bad. Wie käme die Zwölfjährige dazu, mit ihrem 14-jährigen Bruder ein Badezimmer zu teilen? Ein gemeinsames Schlafzimmer wäre ohnehin keine Option. Damit hat schon die Großeltern-Generation Schluss gemacht – diejenigen, die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren aus den Städten wieder nach Suburbia geflohen sind: auf Suche nach mehr Platz, weg vom Schmutz und Lärm der Stadt. Die eigenen Schlafzimmer waren dabei sowohl redlich erarbeiteter Luxus – der mittlerweile zum Standard geworden ist – als auch Entschädigung für die Distanz zur Stadt, zur Arbeit, zu den urbanen Unterhaltungsmöglichkeiten.
Ein Mittelklasse-Leben verlangt bestimmte Dinge: den Überseeurlaub zum Beispiel, das Auto für den Weg zur Arbeit und zur Schule, ein entsprechendes Zuhause ebenso. All das – die Erwartungen, die Übererfüllung von Erwartungen, der Wintergarten, der zweite Wintergarten, das Heimbüro, der Weinkeller neben der Sauna, die Sauna neben dem Pool – all das macht auch viele Sonntagnachmittage komplizierter.
Das Haus ist dann nicht mehr nur der Ort, wo man mit anderen Menschen zusammenkommt, um mit ihnen entspannte Gespräche zu führen. Das Haus ist der Inhalt des Gesprächs. Oder zumindest weiß man nie so recht: Kam die Einladung, weil der nachmittägliche Besuch genauso zum Sonntag gehört wie der morgendliche Kirchenbesuch? Oder kam sie, weil es etwas Neues zu bestaunen gibt: den neuen Swimmingpool, den nochmals vergrößerten Gartenteich? Ist die Sauna neu oder doch nur größer? Oder