Alexander Bogner
Die Epistemisierung des Politischen
Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet
Reclam
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2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961833-3
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014083-3
1. Einleitung: Triumph des Wissens
Würde man die Frage gestellt bekommen, in welcher Gesellschaft wir denn heute eigentlich leben, dürfte man mit einiger Sicherheit als Antwort erwarten: in der Wissensgesellschaft. Mit dieser Diagnose verbindet sich die Vorstellung, dass sich seit einigen Jahrzehnten ein gesellschaftlicher Strukturwandel vollzieht, der ähnlich bedeutsam ist wie der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft vor über 200 Jahren. Wissen, so die Erwartung, wird zur zentralen Triebfeder technologischer Innovation und wirtschaftlichen Wachstums und damit zum Garanten allgemeinen Wohlstands, kurz: zur zentralen Ressource spätmoderner Gesellschaften, wichtiger noch als Arbeit, Bodenschätze oder Kapital.
Klassische Beschreibungen der Wissensgesellschaft haben vor allem die Stabilisierungswirkung des Wissens, insbesondere wissenschaftlichen Wissens, hervorgehoben.1 Tatsächlich trägt Wissenschaft mittels Durchsetzung eines rationalistischen Weltbildes zur Stabilisierung der sozialen Ordnung bei, sorgt sie doch dafür, dass die Menschen – gleich welcher Klasse, Schicht oder Hautfarbe – in derselben Welt leben. Schließlich beziehen sie sich – wenngleich mit oftmals unterschiedlichen Absichten – auf dieselbe von der Wissenschaft entwickelte Infrastruktur von Fakten, Relevanzen und Evidenzen. Damit ergibt sich auf der Wissens- bzw. epistemischen Ebene ein Zusammenhalt, der – Stichwort Klassengesellschaft – auf sozialer Ebene fehlt.
Unsere Weltanschauung basiert auf Einsichten der Wissenschaft, und mit dem Siegeszug der modernen Wissenschaft etablieren sich neue Anforderungen an Logik, Vernunft und Konsistenz, die längst auch zur Richtschnur für unser alltägliches Denken und Handeln geworden sind. Versachlichung, Intellektualisierung des Lebens sowie die Vorherrschaft eines rechnerischen Kalküls: Schon Georg Simmel, einer der Gründerväter der Soziologie, hat dies als Kennzeichen der Moderne ausgemacht:
Der moderne Geist ist mehr und mehr ein rechnender geworden. Dem Ideale der Naturwissenschaft, die Welt in ein Rechenexempel zu verwandeln […] entspricht die rechnerische Exaktheit des praktischen Lebens […].2
Affekte und Leidenschaften haben natürlich auch weiterhin ihre Existenzberechtigung, aber nur in relativ eng abgezirkelten Bereichen. Wirklich ausleben können wir sie nur in Partnerschaft und Familie, ab und zu auch bei Sportveranstaltungen oder auf dem Oktoberfest.
In vielen gesellschaftlichen Bereichen jedoch stehen rationales Kalkül, Wissen und Expertise im Vordergrund. In der Politik wird wissenschaftliche Expertise als zentrale Legitimationsressource geschätzt, in der Wirtschaft gilt das Wissen (auch jenes der Konsumenten) als wichtigster Innovationsfaktor; in der Wissenschaft dreht sich sowieso alles um das Wissen, genauer gesagt: um die Produktion neuen Wissens, und im Bildungsbereich geht es nur am Rande um Persönlichkeitsentwicklung und soziales Lernen. Im Vordergrund steht die Vermittlung von (Lehrbuch-)Wissen. Entsprechend bildet (Experten-)Wissen die höchste Entscheidungsinstanz in vielen politischen Kontroversen. So stellt Wissen den wichtigsten Rohstoff gesellschaftlicher Reproduktion und sozialen Wandels in spätmodernen Gesellschaften dar.
Die Feier der epistemischen Tugenden
Die gesellschaftliche Wertschätzung des Wissens zeigt sich nicht nur in Politik, Wirtschaft oder im Bildungsbereich, sondern auch und gerade in der Populärkultur. Ein schönes Beispiel dafür ist die unglaubliche Karriere des Krimis. Kein Abend, an dem kein Krimi im Fernsehen läuft.
Krimis spiegeln unsere Freude an eindeutigem Wissen: Sie verschaffen uns die Gewissheit, dass die Realität aller Komplexität zum Trotz durchschaubar ist, weil wir eine Geschichte in rationale Elemente aufteilen und von Anfang bis Ende ausgerichtet auf eine eindeutige Lösung hin erzählen können. Zweifellos: Der klassische Kriminalroman ist ein Fest der epistemischen Tugenden. Scharfsinn, Logik, Vorurteilsfreiheit, gründliche Skepsis und wache Beobachtungsgabe, hochentwickelte Kombinatorik sowie ein von großer Sorgfalt geprägtes, manchmal übergenau erscheinendes Vorgehen führen in diesem Genre letztlich zum Erfolg, nämlich zur rationalen Erkenntnis aller Zusammenhänge. So gleicht die erfolgreiche Kommissarin einer soliden Wissenschaftlerin: In der unablässigen Prüfung kleinster Details und (vermeintlicher) Indizien bleibt sie immer kritisch, vor allem sich selbst gegenüber. Seit Edgar Allan Poes »Doppelmord in der Rue Morgue« ist der Ermittelnde mit besonderen, für sein Umfeld geradezu erschreckenden Fähigkeiten zur Deduktion ausgestattet: Sherlock Holmes konnte aus einem abgenutzten Schuh die Lebensgeschichte des Trägers des Schuhes ableiten. Das geht bis heute so: Lee Childs Held Jack Reacher kann aus minimalen Anzeichen die wahre Geschichte herauskristallisieren.
Besonders fasziniert die Figur des Profilers: Anscheinend unzusammenhängende Morde zwingt er in eine Serie, sagt kommende Taten voraus, identifiziert den von allen anderen übersehenen Verdächtigen. Val McDermids Tony Hill versteht die Serientäterinnen und -täter besser als diese sich selbst. Paradigmatisches Beispiel ist Hannibal Lecter aus Jonathan Demmes Film Das Schweigen der Lämmer (nach dem Roman von Thomas Harris), der als ehemaliger Psychotherapeut das Ganze als Spiel mit der FBI-Agentin Starling inszeniert.3 Und natürlich wollen auch Psychotherapeuten dies: Obwohl unsere Leben alles andere als monokausal geleitet zu einem eindeutigen Ende streben, versucht die Therapie meist, genau eine solche geordnete Geschichte zu entwerfen, die der Proband sich dann selbstvergewissernd erzählen kann. Die eigene Lebensgeschichte bis ins Detail ausleuchten, um deren innere Logik zu enträtseln – der Reiz dieser Detektivarbeit trägt seinen Teil zum Boom des Psycho- und Selbsterfahrungsmarktes bei.
Die Grundlage allen Tüftelns und Recherchierens besteht im festen Glauben daran, dass die Welt ein in sich geschlossener, logischer Kausalzusammenhang ist. Es ist, wie Max Weber es formuliert hat, der »Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, […] alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne«.4
Oder nehmen wir die Liebe: Daten, objektive Informationen und intelligente Algorithmen verhelfen zur perfekten Beziehung, so lautet heute das Credo. Im Zeitalter der Online-Partnerbörsen lebt die Vorstellung, dass der passende Partner bzw. die richtige Partnerin irgendwo da draußen existiert und mittels eines Abgleiches detaillierter Persönlichkeitsprofile nur ermittelt werden muss. Ein schöner Traum: Mühselige Beziehungsarbeit nach dem Kennenlernen wird durch intelligentes Informationsmanagement vorher ersetzt. Aufregendes Flirten und Daten ersetzen die Paartherapie. Die kognitiven Kenntnisse über den anderen gehen den Emotionen voraus und sollen der Romantik ein stabileres Fundament verleihen.5 Auch wenn das Ideal romantischer Liebe weiterhin zu gelten scheint, so hat sich doch etwas Wesentliches verändert. Wir glauben nämlich nicht mehr daran, dass das Schicksal zuschlägt, wenn uns Amors Pfeil trifft; wir glauben vielmehr, dass man diesen Glückszustand mittels psychologischer Berechnung gezielt und systematisch herbeiführen kann. Zum Dauerzustand wird dieses Glück also erst dann, wenn wir auf ausgefeilte Matching-Technik vertrauen, und das bedeutet: auf besseres Wissen.
Revolten gegen die Macht des Wissens
Die Wissensgläubigkeit der Moderne ist schon früh zum Gegenstand