Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Comrade – An Essay on Political Belonging bei Verso in London.
Politik bei Wagenbach
Die Reihe wurde 2008 neu gegründet von Patrizia Nanz und Susanne Schüssler.
E-Book-Ausgabe 2020
© Jodi Dean 2019
© 2020 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach
Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Covergestaltung Julie August.
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
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ISBN: 978 3 8031 4289 4
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3700 5
1. WIE AUS UNTERSTÜTZERN GENOSSEN WERDEN
In seiner letzten Rede beim alljährlichen Galadinner der Hauptstadt-Korrespondenten in Washington, D.C. nahm Präsident Barack Obama den Senator Bernie Sanders mehrfach scherzhaft aufs Korn. Sanders führte im Frühsommer 2016 einen überraschend starken Vorwahlkampf gegen die aussichtsreichste Präsidentschaftskandidatin der Demokratischen Partei, die ehemalige Außenministerin Hillary Clinton. Nach einigen Freundlichkeiten für Prominente und Politiker kam Obama auf Sanders zu sprechen:
Das »Phänomen Bernie«, und vor allem seine Anziehungskraft auf junge Leute, hat viele überrascht. Mich nicht, ich verstehe das. Erst kürzlich sprach mich eine junge Frau an und sagte, sie habe es satt, dass die Politiker ihren Träumen ständig im Weg stünden. Als hätten wir unsere 17-jährige Malia dieses Jahr vielleicht zum Burning Man-Festival fahren lassen. (Gelächter.) Undenkbar. (Gelächter.) Bernie hätte sie womöglich fahren lassen. (Gelächter.) Wir aber nicht. (Gelächter.)
Es schmerzt mich dennoch, Bernie, dass du dich ein bisschen von mir distanzierst. (Gelächter.) Ich meine, das tut man einem Genossen doch nicht an. (Gelächter und Applaus.)1
Die letzte Pointe zielte auf die sozialistische Bresche, die Sanders’ Vorwahlkampf in der US-Politik öffnete. Auf den ersten Blick klingt die Spitze einfach wie eine antikommunistische Denunziation: wie Obamas recht unverhohlener Wink, Sanders sei als erklärter Sozialist für die politische Klasse der USA gänzlich inakzeptabel. Vielleicht. Womöglich war sie aber auch ein Wink für das Publikum, Sanders gehöre nicht zur Demokratischen Partei und sei also gar nicht Obamas Parteigenosse: Sanders wolle Präsidentschaftskandidat der Demokraten werden, sei aber eigentlich gar kein Demokrat. Obamas Scherz ist noch für eine dritte Lesart offen: Erinnern wir uns, wie beharrlich die US-amerikanische Rechte Obama selbst denunziert und ihm vorgeworfen hatte, Kommunist oder Sozialist zu sein. Acht Jahre lang betitelte die Rechte den ersten schwarzen Präsidenten des Landes als den größten Linksradikalen, der jemals im Weißen Haus amtiert habe. Die Rechte verspottete ihn als »Genosse Obama« und stellte ihn in eine Reihe mit Lenin, Stalin, Che und Mao. So besehen ginge es bei der Pointe nicht um Sanders als Genossen, sondern um Obama als Genossen: Eventuell hat Obama sich als Sanders’ Genosse bezeichnet, weil sie ein gemeinsamer politischer Horizont vereine – der emanzipatorisch-egalitäre Horizont, der mit dem Wort »Genosse« bezeichnet wird. Würden sie auf derselben Seite stehen und wäre Obama tatsächlich Sanders’ Genosse, dann hätte Obama etwas Solidarität erwarten dürfen. Der Witz funktionierte, weil alle im Saal – die Prominenten, die Washington-Insider und die Medienmogule – sehr wohl wussten: Obama ist kein Genosse. Von gemeinsamen Politikzielen sind Sanders und Obama meilenweit entfernt, auch wenn die Rechte beide nicht auseinanderhalten kann.
Das Wort »Genosse« verweist auf ein politisches Verhältnis, eine Reihe von Handlungserwartungen und auf ein gemeinsames Ziel. Es unterstreicht die Gleichheit (sameness) der Menschen auf derselben Seite – so unterschiedlich sie auch sind, Genossen halten zusammen. Obamas Witz sagt es selbst: Wer für eine bestimmte Politik einsteht, distanziert sich in aller Regel nicht von den eigenen Genossen. Dieses Verhältnis bestimmt solidarisches Handeln, es kollektiviert und lenkt das Handeln im Lichte einer gemeinsamen Vision von der Zukunft. Für Kommunisten ist dies die egalitäre Zukunft einer Gesellschaft, die von der Bestimmung durch Privateigentum und Kapitalismus befreit ist und reorganisiert wird auf Grundlage der freien Assoziation, des Gemeinwohls und der kollektiven Entscheidung der Produzenten.
Doch Worte wie »comrade«, »Genosse« oder auch »Kamerad« sind älter als deren Verwendung durch Kommunisten und Sozialisten.2 In romanischen Sprachen bezeichnet das Wort schon seit dem 16. Jahrhundert Menschen, die sich ein Zimmer teilen. Juan A. Herrero Brasas zitiert eine Paraphrase der Definition aus einem spanischen etymologischen Wörterbuch von 1936: »›camarada‹ ist jemand, der einem anderen so nahe steht, dass er mit diesem im selben Hause isst und schläft.«3 Auf Französisch war das Wort ursprünglich weiblich, »camarade«, und bezeichnete eine Kaserne oder Unterkunft für Soldaten; das deutsche »Kamerad«, so ließe sich ergänzen, ist ein Lehnwort aus dem Französischen.4 Wortgeschichtlich leitet sich das englische »comrade« von »camera« ab, dem lateinischen Wort für Kammer, Zimmer oder Gewölbe. Die technische Nebenbedeutung »Gewölbe« verweist auf eine generische Dimension der Wortbedeutung: als Struktur, die einen besonderen Raum schafft und offenhält.5 Ein Zimmer ist eine reproduzierbare Struktur, die Gestalt annimmt, indem sie ein vom Außen abgetrenntes Innen herstellt und den Menschen darin stabilen, dauerhaften Schutz bietet. Ein Zimmer oder einen Raum zu teilen erzeugt eine Nähe, eine Emotionsintensität und Solidaritätserwartung, welche die Menschen auf der einen Seite von denen auf der anderen Seite unterscheidet. Genossenschaftlichkeit (comradeship) ist ein politisches Verhältnis stabilen, dauerhaften Schutzes.
Das Konzept »Genosse« interessiert mich als Modus der Ansprache, als Träger von Erwartungen und als Symbol der Zugehörigkeit in den kommunistischen und sozialistischen Traditionen; ich begreife den Genossen als allgemeine Chiffre für das politische Verhältnis von Menschen auf derselben Seite einer politischen Barrikade. Genossen sind Menschen, die sich zweckgerichtet zusammenschließen, für eine gemeinsame Sache: Wenn wir siegen wollen, und wir müssen siegen, müssen wir zusammen handeln. In diesem Sinne beschreibt Angela Davis ihren Entschluss, der Kommunistischen Partei beizutreten:
Ich wollte einen Anker, eine Basis, eine Vertäuung. Ich brauchte Genossen, mit denen mich eine gemeinsame Ideologie verband. Ich hatte die kurzlebigen Ad-hoc-Gruppen satt, die auseinanderfielen, wenn die geringste Schwierigkeit auftrat; die Männer satt, die ihre sexuelle Höhe danach bemaßen, wie die Frauen vor ihnen geistig in die Knie gingen. Nicht daß ich furchtlos gewesen wäre, aber ich wußte, daß wir kämpfen mußten, um zu siegen, und daß der siegreiche Kampf von den Massen unseres Volkes und von der arbeitenden Bevölkerung insgesamt kollektiv geführt werden mußte. Ich wußte, daß dieser Kampf von einer Gruppe geleitet werden mußte, einer Partei mit einer dauerhafteren Mitgliedschaft und Struktur und einer substantielleren Ideologie.6
Auf Genossen kann man sich verlassen. Man teilt zumindest so viel Ideologie, so viel Verbundenheit mit den gemeinsamen Prinzipien und Zielen, um es nicht bei einmaligen Aktionen zu belassen. Zusammen kann man den langwierigen Kampf aufnehmen.
Unser Handeln als Genossen ist Ausdruck des freien Willens, aber nicht immer einer freien Wahl. Auf Genossen muss man sich verlassen können – auch wenn wir uns nicht mögen, und auch wenn wir verschiedener Meinung sind. Wir tun, was zu tun ist, weil wir es unseren Genossen schuldig sind. Vivian Gornick überliefert in Der Zauber des amerikanischen Kommunismus die Worte eines ehemaligen Mitglieds der Kommunistischen Partei der USA, kurz CPUSA, dem der alltägliche Trott aus Zeitungsverkauf und Agitation – wie man sie vom Parteikader erwartete – zwar zuwider war, der aber dennoch erzählte: »Ich hab’s gemacht. Ich hab’s gemacht, denn wenn ich es nicht gemacht hätte, hätte ich meinen Genossen am nächsten Tag nicht unter die Augen treten können. Wir alle haben es