Zuerst ging alles gut. Doch kurz nach Mitternacht fielen die Herztöne des Kindes bei jeder Wehe ab. Jetzt musste rasch gehandelt werden. Die Ärzte entschieden sich für einen Not-Kaiserschnitt und Jana wurde in Windeseile in den OP gebracht.
Nicht lange danach erblickte Jonathan das Licht der Welt. Er hatte die Nabelschnur um den Hals gewickelt. Es war ein großes Geschenk, dass die Ärzte schnell reagiert hatten, sonst hätte der Sauerstoffmangel schlimme Folgen haben können. So wurde Jonathan zum doppelten Geschenk.
Am frühen Nachmittag kam Hannes mit den Mädchen, damit sie ihren Bruder kennenlernen konnten. Jael hielt Jonathan im Arm und betrachtete ihn lange. Plötzlich fragte sie: „Warum nennen wir ihn nicht Jesus, wenn er doch an Weihnachten auf die Welt gekommen ist? Jesus beginnt doch auch mit J.“ Jana und Hannes schmunzelten.
Jamina erklärte energisch. „Es gibt nur einen Jesus. Diesen Namen hat niemand sonst.“
„Da irrst du dich“, erwiderte Hannes. „In Spanien zum Beispiel kommt dieser Name heute noch vor. Doch für uns gibt es nur einen Jesus, da hast du recht. Deshalb haben wir einen anderen Namen für unseren Jungen ausgesucht. Jonathan bedeutet: ‚ein Geschenk von Gott.’ Dieser Name passt also auch zu Weihnachten.“
Die Mädchen waren gar nicht damit einverstanden, dass Mami und Jonathan im Krankenhaus bleiben mussten, anstatt mit ihnen und den Großeltern Weihnachten zu feiern. Hannes versprach, dass sie morgen wiederkommen und nochmals Weihnachten feiern würden und schlug vor, zu Hause eine Überraschung dafür vorzubereiten. Sicher würden auch die Großeltern mitkommen, um ihr neues Enkelkind zu bestaunen. Dann waren sie widerwillig gegangen und ließen Jana mit Jonathan allein.
Morgen. Jana freut sich darauf, doch heute Abend spürt sie die Einsamkeit mehr als sie gedacht hätte und als ihr lieb wäre. Sie schaut wieder auf das Kind auf ihrer Brust. Du, mein Geschenk Gottes, wie bin ich froh, dass letzten Endes alles gut gegangen ist, denkt sie. Wie sich wohl Maria und Josef vor mehr als 2000 Jahren gefühlt haben mochten, als Jesus in dem Stall zur Welt kam?, sinniert sie weiter. Vielleicht durchlebte Maria auch ein Wechselbad der Gefühle: auf der einen Seite große Dankbarkeit über die Geburt des Heilandes, auf der anderen tiefen Schmerz über diesen unwürdigen Geburtsort. Da habe ich es doch viel besser. Ich bin zwar ohne einen Großteil meiner Familie, liege aber in einem bequemen Bett in einem warmen Zimmer, nicht auf einem Strohlager in einem schmutzigen, stinkenden und kalten Stall.
Wie beschwerlich das wohl alles war, überlegt Jana weiter. Kurz vor der Geburt musste Maria ja noch eine lange Reise von Nazareth nach Bethlehem machen. Wie musste das gewesen sein, hochschwanger tagelang auf einem Esel zu reiten? Und dann fand Josef in Bethlehem keinen anderen Ort für sie als einen Stall – ohne fließendes Wasser, ohne elektrisches Licht, ohne Hebamme, ohne Ärzte. Wie schafft man das nur, unter solchen Umständen alleine ein Kind zur Welt zu bringen?
Und dann durchzuckt Jana plötzlich ein schrecklicher Gedanke: Hätte ich damals Jonathan zur Welt bringen müssen, wäre er wahrscheinlich gestorben und ich vielleicht mit ihm. Still liegt Jana im Bett und schaut auf das friedlich schlafende Kind. Wie gut, dass Gott damals über der Geburt seines Sohnes gewacht hat, denkt sie weiter. Dass er und Maria die Geburt gut überstanden haben und Jesus gesund zur Welt gekommen ist. Dass Gott in Jesus sein Versprechen eingelöst hat, den Retter der Welt zu schicken. Dass er in Jesus offenbart hat, wie viel ihm an uns Menschen liegt.
Sie drückt Jonathan an sich und flüstert: „Danke, mein kleiner Schatz, für diese Weihnachtspredigt.“ Dann stimmt sie leise einige Weihnachtslieder an und stellt sich vor, wie Tausende von Engeln mitsingen aus Freude über die Geburt von Jesus. Glücklich lächelnd döst sie ein.
Hoher Besuch
von Susanne Hornfischer
Fast jeden Nachmittag ging Ulrike zum Spielen und Erzählen zu Opa Hans ein Stockwerk tiefer. Bei ihm war es nicht so hektisch wie bei ihren Eltern, die gerade jetzt im Advent alle Hände voll in ihrem Geschäft zu tun hatten. Ulrike fühlte sich wohl in Opas gemütlichem Zimmer mit dem Kachelofen und den alten Bildern und Fotos an den Wänden. Sie hatte ihren Opa besonders gern. Er nahm sich immer Zeit für seine jüngste Enkelin, und im Erzählen war er ein Meister.
Eines Tages, als Ulrike ihn besuchte, brachte sie ihm einen Brief mit.
„Opa, der Postbote hat eben diesen Einschreibbrief vom Rechtsanwalt für dich gebracht. Du sollst hier unterschreiben.“ Sie reichte Opa mit dem Brief ein kleines Blatt Papier und einen Kugelschreiber. Opa kramte umständlich seine Brille aus der Hemdentasche, klappte die Brillenbügel aus und schob sie sich rechts und links über die Ohren.
„Zeig mal her! Wo soll ich meinen Willem hinsetzen? Ach, hier!“ Opa kritzelte seinen Namen aufs Papier und gab es Ulrike zurück. Flink ging sie zur Haustür, wo der Postbote auf die Unterschrift wartete.
Als Ulrike wieder ins Zimmer kam, stand Opa am Fenster und las den Brief. Ulrike setzte sich still auf die Ofenbank und beobachtete Opas Gesicht. Gute Nachrichten waren es anscheinend nicht, die er bekommen hatte, denn er schüttelte beim Lesen immer wieder den Kopf und sein Gesicht war sorgenvoll. Ulrike wollte gern fragen, was in dem Brief stand, aber sie sagte lieber nichts. Ob es bei dem Schreiben um Onkel Richard ging? Ulrike wusste, dass Opa und sein um sechs Jahre jüngerer Bruder seit einiger Zeit völlig zerstritten waren. Nicht mal Onkel Richards 80. Geburtstag hatte Opa mitgefeiert. Er hatte etwas von „zu viel Arbeit“ gebrummelt und war einfach zu Hause geblieben. Dabei wohnte Onkel Richard gleich nebenan.
Schließlich faltete Opa den Briefbogen zusammen, steckte ihn ins Kuvert zurück und legte ihn in die unterste Schreibtischschublade.
„Opa“, sagte Ulrike, „du heißt doch Hans.“
„Hans Heinrich, wenn du es genau wissen willst“, antwortete Opa und ließ sich schwerfällig in seinem Sessel nieder.
„Du hast aber eben was von Willem gesagt und das versteh ich nicht. Willem heißt das Pferd von Bauer Harder, aber du doch nicht.“
Opa schmunzelte. „Weißt du, als ich Kind war, gab es in Deutschland einen Kaiser, der hieß Wilhelm der Zweite. Vor ihm hatte es schon einmal einen Kaiser gegeben, der auch Wilhelm hieß. Das war sein Großvater, Kaiser Wilhelm der Erste. Bauer Harders Vater hat den Kaiser verehrt und deshalb sein tüchtigstes Pferd Willem genannt, Willem zwo. So nannten die Leute den Kaiser damals. Aber nur, wenn sie unter sich waren. Seitdem heißt bei Harders immer ein Pferd Willem.“
Ulrike ließ nicht locker. „Und was hat das mit deiner Unterschrift zu tun?“
„Der Kaiser hat ganz viel zu tun gehabt. Wenn er in seinem Schloss in Berlin war, hat er Gesetze gemacht und musste viele Dokumente, Urkunden und Briefe unterzeichnen. Was, meinst du, hat er da geschrieben?“
„Seinen Namen“, antwortete Ulrike. „Wilhelm.“
„Siehst du, und deshalb sagt man seitdem manchmal ‚seinen Willem druntersetzen’, wenn man etwas unterschreibt.“
„Ach so!“ Ulrike überlegte einen Moment. „Bitte, Opa, erzähl doch noch was aus der Zeit, als du klein warst. Ich hör die Geschichten so gern. Hast du den Kaiser mal gesehen?“
Opa nahm die Brille ab, legte sie vor sich auf den Tisch und rieb sich die Augen. „Da muss ich mal ganz tief in meinem Gedächtnis graben, dass ich dir das alles richtig erzähle von damals. Ich hab ihn nämlich wirklich mal gesehen, den Kaiser.“
Opa rückte in seinem großen breiten Sessel etwas zur Seite und klopfte mit der flachen Hand neben sich aufs Polster. „Komm her zu mir, wir machen es uns jetzt ganz gemütlich und gehen auf Reisen in meine Kindheit.“ Ulrike huschte zu Opa und kuschelte sich an ihn.
„Das muss 1913 gewesen sein. Jedenfalls vor dem Ersten Weltkrieg. Ich war damals fünf oder sechs Jahre alt. Eine neue Schule war gebaut worden, und die sollte Kaiser-Wilhelm-Schule heißen.“
„Warum?“ Ulrike hob den Kopf und sah Opa an.
„Weil der Kaiser ein bedeutender Mann war, die höchste Person in unserem Land, und vielleicht auch, weil man hoffte, dass