Unerreichbares Leben. Benigna Gerisch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benigna Gerisch
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347101975
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      Benigna Gerisch

       Unerreichbares Leben

      Erzählungen

      Copyright© 2020 Benigna Gerisch

      Umschlag: Webraise Berlin

      Lektorat: tredition-Verlag

      Titelbild: Werner Heldt: Berliner Vorortstraße, 1936,

      Hamburger Kunsthalle, Copyright©: VG Bild-Kunst, Bonn 2020

      Verlag und Druck:

      tredition GmbH

      Halenreie 40-44

      22359 Hamburg

      978-3-347-10195-1 (Paperback)

      978-3-347-10196-8 (Hardcover)

      978-3-347-10197-5 (e-Book)

      Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

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      Für meine Mutter Charlotte (1928 – 2018)

       Inhalt

      Rot lackierte Fußnägel

      Das Geschenk

      Mitten im Leben

      Lost am Stadtrand

      Unerreichbares Leben

      Schwarze Rose auf weißem Hemd

       Rot lackierte Fußnägel

      Als er erwachte, war irgendetwas anders. Es war nicht das leere Bett neben ihm, daran hatte er sich allmählich gewöhnt. Das Sonnenlicht drang hell durch die Leinenvorhänge und ließ das Parkett wie flüssigen Honig glänzen. Das war es. Das Licht und die Atmosphäre im Zimmer waren eine gänzlich andere als sonst. Es musste schon spät sein, dachte er nun aufgewühlt. Und tatsächlich, die Zeiger seines Weckers zeigten kurz nach neun an. Einen Wecker hatte er nicht gestellt, das hatte er die letzten Jahre, ja sogar Jahrzehnte nicht getan und war immer pünktlich um fünf Uhr aufgewacht und gleich aufgestanden. Das war es also. Er kannte seine Wohnung bei diesem Morgenlicht nicht, eigentlich kannte er seine Wohnung am Tage überhaupt nicht. Er war immer gleich nach dem Aufstehen aus dem Haus und zur Arbeit geeilt. Etwas benommen rappelte er sich aus dem Bett auf. Es ärgerte ihn, dass er sich nun plötzlich so verlangsamt, so alt vorkam. Sein Rücken schmerzte schon seit Längerem, und auch seine Knie verursachten ihm Probleme. Er humpelte wie benommen in Richtung Küche, nahm aber einen kleinen Umweg durch das Wohnzimmer, um einen Blick auf den Balkon des gegenüberliegenden Mietshauses zu werfen. Da war aber nichts zu sehen, genauer gesagt, sie war nicht zu sehen. Die Vorhänge waren noch zugezogen, aber ihre Balkonpflanzen leuchteten farbenprächtig in der Sonne. Fast schmerzte das Rot der Geranien in seinen Augen, und der Blaue Eisenhut zeichnete sich im scharfen Kontrast dazu ab. Er hatte nie verstanden, mit welcher Hingabe sich die Menschen dem Lebenden widmen konnten.

      Er hatte sein Leben den Toten geweiht. Als Rechtsmediziner war er zu Ruhm und Ehre gelangt. Nachdem er sich durch die mühsamen und oft quälenden Wege der Facharztausbildung gekämpft, promoviert und habilitiert hatte, wurde er als Jüngster seiner Zunft auf den Direk-toriumsposten des Rechtsmedizinischen Institutes berufen. Damals war er also mit knapp fünfunddreißig Jahren ›ein gemachter Mann‹. Auf seinem Arztkittel mit Silberknöpfen besetzt, der nur Chefärzten vorbehalten war, stand: Prof. Dr. med. Viktor von Glaser. Darauf war er stolz, sehr stolz sogar.

      Seine Frau Gerda war auch stolz auf ihn. Selbst wenn sie wusste, dass er nun noch weniger am Familienleben teilnehmen würde als bereits zuvor. Sie hatten sich mit Anfang zwanzig vor einem Kino kennengelernt, sie war gestolpert, hatte sich den Arm verstaucht, und er war ihr zu Hilfe geeilt. Es schien so einfach, fast zwangsläufig, dass sie zusammenblieben. Fünf Jahre später heirateten sie und bekamen im Abstand von zwei Jahren erst ihren Sohn, Johannes, und dann ihre Tochter, Elisabeth. Sie hatten ihr den Namen seiner Mutter gegeben, die früh verstorben war. Gerda hatte für Viktor und die Familie ihre Ausbildung zur Zahntechnikerin aufgegeben. Es war ja ohnehin ganz überflüssig, dass seine Frau arbeitete. Sie hielt ihm den Rücken frei, während er Karriere machte. Wobei er dieses Wort nicht gern benutzte, für ihn war seine Arbeit eine Berufung. Er konnte nicht anders, es war wie ein innerer Zwang. Bei seinen älteren Kollegen war er durchaus angesehen, bei den Jüngeren eher gefürchtet. Er sei zu streng, klagte man hinter seinem Rücken. Das verstand er nicht, er war gewissenhaft und diszipliniert, daran war nun wahrlich nichts verkehrt. Das hatten die Toten verdient, denn schließlich war er es, der sie wieder zum Leben erweckte. Er erzählte durch ihre toten Leiber ihre Geschichten. Er war es, der herauszufinden hatte, ob sich jemand umgebracht hatte, ob es ein Unfall, Mord oder Totschlag war. Da war Schlamperei schlichtweg fehl am Platz.

      »Dein Vater war ein mächtiger Mann, ein hohes Tier im Krieg gewesen«, sagte seine Mutter oft mit andächtigem Stolz. Als Viktor herausbekam, wie viele Menschen sein Vater auf dem Gewissen hatte, die es aber gar nicht zu beschweren schienen, sagte sein Vater in scharfem Ton: »Weißt du, mein Sohn, ich habe mir nichts vorzuwerfen, ich habe nur meine Pflicht getan. Und ich rate dir gut, es mir gleichzutun!« Vielleicht hatte er sich deshalb mit aller Hingabe den Toten gewidmet, vielleicht war es eine Art der Wiedergutmachung. Er wollte ihnen ihre Würde zurückgeben. Indem er ihre Körper aufschnitt und in jede Faser vordrang, wollte er ihre Qualen sichtbar und die Täter dingfest machen.

      Kurz nach seiner Pensionierung, er hatte noch zwei Jahre verlängern und sein Zimmer im Institut auf Lebenszeit behalten können, da trennte sich Gerda von ihm. Sie sagte, sie könne ihn nicht mehr riechen, er stinke nach Formaldehyd. Alles an ihm stinke danach, die Kleidung, die Haare, die Haut, die sie schon lange nicht mehr berührt hatte. Sie könne das keinen Moment mehr länger ertragen, ihr werde übel, sie ersticke daran.

      Das war eine Anmaßung, eine schiere Gemeinheit, ein hysterisches Gebaren. Das war nun einmal der Geruch seiner harten Arbeit, die er Tag für Tag verrichtete. Das war nun wirklich die Höhe. Aber wusste eigentlich irgendwer in diesem Hause, wie seine Arbeit eigentlich aussah und tatsächlich roch?

      Kurz ärgerte er sich darüber, dass er so oft in Phrasen seines Vaters dachte und sprach, vor allem, wenn er zornig war.

      Wusste hier eigentlich irgendjemand, wie der Tod und die Leichen und die Wunden rochen? Dass seine ›Rote Arbeit‹ nicht damit getan war, die Leichen aufzuschneiden und die Organe einfach rauszunehmen und irgendwo im Wald liegen zu lassen, wie es sein Vater auf der Jagd getan hatte. Schädel, Brust und Bauchhöhle mussten geöffnet, nicht selten jedes Organ sorgsam geborgen und bis ins kleinste Detail untersucht werden. Dass nennt man Autopsie, liebe Leute. Und am Ende mussten alle Organe wieder zurück an ihren Platz verfrachtet werden, bevor die Leiche geschlossen wurde. Konnte sich jemand vorstellen, wie die Wohnungen, die Tat- und Fundorte rochen? Und interessierte es hier irgendwen, wie Blut, Urin, Sperma und Eiter wirklich rochen, mit wie vielen Litern Körperflüssigkeit er je zu tun gehabt hatte? Und hatte sich jemand mal gefragt, wie brutal, wie dreckig und grausam der Tod sein konnte? Er dachte dabei an die Leiche eines alten Mannes, dem man wegen lächerlichen zehn Euro den Schädel zertrümmert hatte. Auf seinem Unterarm fand Viktor eine eintätowierte KZ-Nummer. Der Mann hatte Auschwitz überlebt.

      Viktor war nun außer sich.

      »Formaldehyd, meine Liebe, ist da noch der angenehmste Geruch!«, erschöpft beendete Viktor abrupt seinen Wutausbruch. Dann aber wallte der Zorn wieder in ihm auf.

      Denn schließlich hatte die Familie gut von seiner ›stinkenden Drecksarbeit‹ gelebt, sehr gut sogar. Er hatte diese große Altbauwohnung mit zwei Balkonen und sechs Zimmern kaufen können, sie hatten zwei Autos, und die Familie konnte mindestens zwei Mal im Jahr in den Urlaub fahren. Dass er oft nicht mitfahren konnte, war nun einmal seiner Unersetzlichkeit im Institut