Leben. Nehmen.
Tullio Forgiarini,
1966 in Luxemburg geboren als Sohn eines Italieners und einer Luxemburgerin. Er hat Geschichte studiert und unterrichtet Geschichte, Latein und Geografie in einer Spezialklasse. Mit Schülern mit einem schwierigen sozialen Hintergrund kennt er sich aus. Forgiarini schreibt meist auf Französisch: schwarze Geschichten, Theaterstücke und Drehbücher. Der Autor lebt in Luxemburg.
Arena
Ein Verlag in der Westermann Gruppe
Mit Unterstützung des Luxemburgischen Ministeriums für Kultur
Die luxemburgische Originalausgabe wurde ausgezeichnet mit dem Literaturpreis der Europäischen Union 2013.
Zu diesem Titel stehen Unterrichtserarbeitungen zum kostenlosen Download zur Verfügung.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2020 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Niederländischen von Luc Spada
Covergestaltung: Juliane Lindemann, unter Verwendung einer Vorlage von Editions Guy Binsfeld und einem Bild von Getty Images, München/Sorensen, Henrik
E-Book-Herstellung:
Arena Verlag mit parsX, pagina GmbH, Tübingen
E-Book ISBN 978-3-401-80915-1
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EINS
In den Arsch gefickt zu werden. Beim Duschen. Was sonst? Das sagst du nicht. Du denkst es nur, weil ich es denke. Ich würde es sagen, aber du, du nicht. Es ist nicht so, dass du dich nicht traust, so was zu sagen. Immerhin hast du dem Kerger schon mal hinterhergeschrien, dass er ein absoluter Wichser! ist, und der Matos, dass sie ihre Mutter ficken soll. Nein, du könntest es der Steines problemlos sagen. Die Steines ist ja auch Erzieherin. Sie regt sich nie auf. Oder kaum. Schon über eine Stunde redet sie auf dich ein.
»Schau mich an, wenn ich mit dir rede!«, sagt sie.
Das machst du dann auch. Kurz. Kurz schaust du sie an. Ansonsten guckst du nur auf ihre Brüste, die sich geradezu auf dem Kantinentisch vor dir breitmachen. Dass sie megageile Titten hat, sagst du immer und immer wirst du rot dabei. Und dann kriegst du einen Ständer. Die Steines bemerkt nichts oder vielleicht ist es ihr auch einfach egal. Sie will dir sowieso bloß Dreiborn verklickern.
»Es ist dort gar nicht so schlimm«, sagt sie.
Jedenfalls nicht so schlimm, wie alle behaupten. Dort wärst du besser aufgehoben als zu Hause. Deutlich besser. Du hättest einen geregelten Alltag mit fester Struktur. Regeln brauchst du und Menschen, die dir zurück in die Spur helfen. Es wär ja nicht für ewig. Vielleicht ein paar Monate, wenn alles klappt. Du musst dich halt zusammenreißen. Dich nicht immer so anstellen. Warum du denn nicht willst. Ob du Angst hast. Und vor was. In den Arsch gefickt zu werden. Beim Duschen. Was sonst? Davor hast du Schiss. Genau davor.
Natürlich würdest du das niemals zugeben. Nicht vor der Steines. Und auch nicht vor den anderen. Aber das ändert nichts an deiner Panik. Du hast schon so einiges von deinen Freunden gehört. Viele von denen waren schon mal in Dreiborn, aber niemand wurde in den Arsch … Nicht beim Duschen und auch nicht in der Kantine. Jedenfalls behaupten sie das. Aber nur, weil sie die richtigen Freunde hatten, sagen sie immer. Allerdings gab’s aufs Maul. Das ist normal. Die Neuen bekommen immer aufs Maul. Ist halt so … stört dich aber auch nicht besonders. Auch nicht die Zelle, in die du eingesperrt wirst, wenn du mal wieder ausflippst. Eine Matratze auf dem Boden. Wasser und Brot. Wie in den Serien … wie damals in Köln … Aber in den Arsch …
»Nein, ich hab keinen Schiss!«, antwortest du der Steines und guckst wieder auf den dreckigen Kantinentisch. Auf die Krümel. Du stellst dir vor, sie wären Menschen. Lebendige Menschen. Wenn du ein bisschen stärker ausatmest, bewegen sie sich. Je nachdem, in welche Richtung du den Kopf drehst, treibst du sie zusammen oder auseinander …
Jetzt ist die Steines wieder weg.
»Wir sehen uns danach«, hat sie gesagt. Bestimmt ist sie rauchen. Es ist zwar überall Rauchverbot, aber die Steines findet immer ’nen Platz. Wie die anderen Lehrer auch. Die Steines ist 28. Das weißt du, weil du sie selbst gefragt hast. Sie riecht immer nach Rauch und Kaugummi. Ihre blonden Haare nach Apfel. Das kannst du riechen, wenn sie neben dir sitzt, um dir bei den Hausaufgaben zu helfen. Meistens ist sie ganz nett zu dir, auch wenn du keine Peilung hast und ihr ständig in den Ausschnitt glotzt …
Außer dir ist fast niemand mehr in der Kantine. Alle anderen sitzen längst im Bus. Für die wurde ja auch kein Rausschmeißkommando einberufen. Überall Tische mit leeren Plastikverpackungen und Kakaoflecken. Und die Frauen machen den Dreck weg. Lauter Portugiesinnen.
Dir ist das nicht mal aufgefallen, deine Mutter musste es dir stecken. Sie hat auch mal hier gearbeitet. Aber nicht lang. Es gab Streit. Sandra bekommt immer Ärger auf der Arbeit. Gut, dass sie nicht mehr hier putzt, was? Du musst dich also nicht mehr verstellen und sie auch nicht. Immer so tun, als würdest du sie nicht kennen. So wollte sie es. Du auch.
Trotzdem hoffst du, dass sie kommt. Für die Anhörung vor dem Rausschmeißkommando … Und du hoffst, dass sie allein aufkreuzt … nicht mit Steve … Sonst macht der wieder auf Ersatzpapi. Nur, weil er seit Wochen deine Mutter vögelt … Total peinlich. Der ist gerade mal zehn Jahre älter als du … Aber du weißt, wie es läuft. Ist ja nicht deine erste Anhörung. Es müsste … Warte … Weißt du eigentlich, wie oft du schon zu so was antanzen musstest? Zweimal in Petingen … in Grevenmacher bist du kurz vor deinem zweiten Mal lieber gleich von der Schule gegangen … Und jetzt die hier nach … äh? … nach nicht mal zwei Jahren.
Mach es wie immer. Du weißt doch, was sie wollen. Vor dem Rausschmeißkommando ist kein Platz für Ehrlichkeit. Hier gilt nur: Schwanz einziehen, ducken und eine Lüge nach der anderen raushauen. Auf die Tränendrüse drücken kommt auch gut. Besonders dann, wenn das Thema Dreiborn auf dem Tisch landet. Sie können eh nicht viel tun. Du bist erst 15. Sie müssen dich wieder aufnehmen.
Dein Handy vibriert. Es ist deine Mutter, sie kommt zu spät. Aber sie kommt, sagt sie. Das ist sicher. Sie schickt dir eine Nachricht mit :-P. Ein :-P zum Mitnehmen in deine Anhörung! Deine Mutter ist eine dumme Kuh! Sie kann ja nichts dafür, wirklich nicht. Du aber auch nicht. Du bist nur ein Unfall, das hat sie dir selbst gesagt. Mehr als einmal. Auch wenn andere Leute dabei waren. Dann hat sie jedes Mal gelacht. Du brauchst dich wirklich nicht zu schämen wegen deiner Alten. Und trotzdem tust du es …
Im Internet suchst du nach ein paar versauten Filmchen. Da hat dir Rui ein paar gute Links geschickt. Die kann man einfach so anschauen, ganz umsonst und mit viel perverser Werbung. Aber immer schön im privaten Modus, damit die Lehrer sie nicht in deinem Verlauf finden, wenn sie dir das Handy abnehmen …
Du steckst dir die Kopfhörer ins Ohr, gehst aufs Klo und wichst.
ZWEI
Du sitzt am liebsten hinten im Auto, dann musst du nicht ständig deine Mutter sehen. Und sie kommt nicht dauernd auf die Idee, dass sie mit dir reden muss. Dir ist es egal. Sowieso besser, wenn sie die Klappe hält. Ich glaub, ihr habt euch nichts mehr zu sagen, jedenfalls nichts Wichtiges. So können wir hinten im Auto ungestört Johnny Chicago spielen.
»John Guddebuer?«, fragst du.
»Chicago! Mein Name ist Johnny Chicago, du Arsch!«, antworte ich