Chris Livina
Am liebsten barfuß
© 2020 Chris Livina
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ISBN 978-3-347-06556-7 (Hardcover)
ISBN 978-3-347-05859-0 (Paperback)
ISBN 978-3-347-05861-3 (e-Book)
Wenn Kinder sich verlieben, ist ihre Liebe leicht wie Pusteblumensamen und jedes Schirmchen trägt die Hoffnung, dass sie sich als Erwachsene wiederfinden.
Prolog
V ANESSA DAVIS VERSTAUTE IHREN ARBEITSORDNER AUF DEM Rücksitz. Ihre Kollegin kam ebenfalls aus einem Familientermin. Die Sozialpädagoginnen hatten sich getroffen, um gemeinsam im Büro einige Berichte zu schreiben.
„Wie war’s?“, fragte Jana Wickham und zündete sich eine Zigarette an.
„Jana, ich will nicht, dass du in meinem Auto rauchst. Mach wenigstens das Fenster auf.“
Die junge Frau ließ das Fenster herunter und blies den Rauch nach draußen.
Vanessa startete den Motor und fädelte sich in den Verkehr ein, nachdem sie den Schotterweg vom Campingplatz hochgefahren war.
„Pat Stroker ist ein herzensguter Kerl. Aber nach dem Tod seiner Frau scheint ihm alles zu entgleiten. Der ganze Haushalt ist ein Saustall, es gibt nur Dreck und Chaos. Ich weiß nicht, ob wir Linnéa in der Familie lassen können. Er ernährt sie mit Toastbrot und Nutella und achtet kaum auf die Kleine. Ständig ist sie ungepflegt und jedes Mal, wenn ich sie sehe, hat sie dieselben, stinkenden Sachen an. Er schneidet ihren Strumpfhosen das Fußstück ab und zieht sie ihr weiter an. Vom Kindergarten erhalte ich regelmäßig Anrufe, weil er sie ohne Essen losschickt oder sie sich dreimal am Tag vollpinkelt. Dann auch noch dieses Hausschwein, das überall hinkotet. Mir wird ganz schlecht, wenn ich daran denke, dass Lin im Sommer in die Schule kommen soll.“
„Schlimm“, entgegnete Jana.
„Es bricht mir das Herz, dass sie jedes Mal auf meinen Schoß klettert, wenn ich komme. Sie klammert sich an mich und will mich nicht gehen lassen.“ Vanessa schluckte schwer und erwischte einen Parkplatz vor dem Jugendamt. „Sie ist völlig ausgehungert nach Liebe.“
„Sind sie das nicht alle? Wir haben keine Pflegeplätze für Kinder wie Lin. Es sind keine Drogen im Spiel und Patrick Stroker ist nicht gewalttätig. Passt diese Frau aus dem Laden noch auf sie auf?“
„Sie zieht die Kleine heraus, sooft sie kann. Aber die Mutter kann sie natürlich nicht ersetzen.“
„Wenigstens das. Ich komme gerade aus der Familie mit den vier Kindern.“ Jana drückte die schwere Tür zum Wrestlingtoner Jugendamt auf. „Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Der Kleinste hat Brandwunden auf seinen Armen. Die Mutter drückt ihre Zigarettenstummel auf ihm aus. Ich muss Mr. Johnson sprechen, bevor er heimwärts rauscht.“
Die Tür fiel langsam hinter ihnen zu.
Am gleichen Abend in einer ganz anderen Gegend drückte Teresa Terlizzi ihren kleinen, sechsjährigen Sohn an sich. Es war nach 22 Uhr und sie hatte ihn so lange wie möglich schlafen lassen, aber jetzt musste sie ihn wecken. Wenige Minuten hatte sie verzweifelt an seinem Bett verweilt und ihm beim Schlafen zugesehen, seinen Atemzügen gelauscht und seine weichen, kindlichen Züge bewundert. Seine dichten Locken standen in alle Richtungen und seine langen Wimpern zitterten, als er etwas Aufregendes träumte. Jetzt aber war keine Zeit mehr, ihn zu bewundern. „Joel, wach auf“, flüsterte sie und strich ihm die weichen Haare aus dem Gesicht.
„Mama“, schnaufte er, als er sie erkannte, „Was ist?“
„Wir müssen los, Liebling. Sonst erwischen wir den Nachtzug nicht mehr.“
„Wohin fahren wir denn?“ Mit einem Schlag war der kleine Junge wach und registrierte den gepackten Koffer, die volle Reisetasche und die leer geräumten Regale.
„Ich weiß nicht“, antwortete seine Mutter und hob seinen kleinen, warmen Körper aus dem behaglichen Bett. Sie überlegte. Den Schlafanzug musste er wohl anbehalten, seine Kleidung hatte sie schon eingepackt.
„Müssen wir wieder weg?“, begann er an ihrer Schulter zu schluchzen.
„Ja … leider …“, Teresa drückte ihn an sich. Die Zeit tickte gnadenlos und der Erste des Monats kam mit dem Sonnenaufgang am nächsten Tag. Der Vermieter gab ihr keinen Aufschub mehr mit der Miete, sie war schon seit drei Monaten im Rückstand. Sie mussten die Wohnung räumen.
Sie putzte dem Kleinen die Nase. „Komm jetzt. Wir schaffen es sonst nicht.“ Sie setzte Joel auf die Füße und nahm das Gepäck. „Zieh die Türe leise hinter dir zu. Hast du Mr. Poo?“
„Ja.“
Sie traten auf die Straße. Kaltes Nachtlicht fiel fahl auf das Kopfsteinpflaster. Ein Taxi wartete am Straßenrand und Teresa gab dem Fahrer ihr letztes Geld.
„Zum Bahnhof, bitte.“ Die Fahrt war kurz. Der Junge stolperte orientierungslos hinter ihr her und sie umfasste seine kleine Hand fester.
„Mama, ich bin müde. Bitte bring mich ins Bett.“
Teresa wurde ungeduldig, die Zeit rannte ihr davon. „Du kommst jetzt, Joel!“, schrie sie und sah hektisch auf die Uhr. Wenn sie nicht in fünf Minuten am Bahnsteig waren, würde der Nachtzug ohne sie fahren und die günstigen, vorreservierten Tickets verfielen.
„Ich gehe nicht weiter!“, wehrte sich Joel bockig und setzte sich mitten auf den schmutzigen Bahnhofsvorplatz. Teresa zog ihn am Arm hoch. „Im Zug kannst du schlafen“, versprach sie.
„Geh alleine!“, forderte der Kleine und machte sich extra schwer.
Teresa hatte keine Zeit mehr. Sie packte ihn und wuchtete ihn über ihre Schulter. Mit einer Hand hielt sie das zappelnde Kind im Zaum und balancierte die Reisetasche auf ihrer Schulter, den Koffer hielt sie in der anderen Hand.
Joel gebärdete sich wie wild und schlug mit seinen Fäusten auf sie ein. Das Stofftier flog zu Boden. „Mr. Poo!“, kreischte er und rutschte ihr in einem unachtsamen Augenblick von der Schulter. Er schlug hart auf den Boden, wo er das geliebte Tier aufhob und ans Herz drückte. Teresa ließ die Reisetasche und den Koffer fallen.
„Ich komm jetzt, Mama“, sagte Joel schuldbewusst und humpelte auf sie zu.
Teresa nahm den Kleinen in den Arm und schluckte die Tränen herunter. Sie gab ihm einen herzhaften Kuss. „Alles okay?“
Er nickte und umschlang sie mit seinen Ärmchen.
Teresa hob ihn hoch, packte das Gepäck und erreichte auf die letzte Minute den Bahnsteig. Sie sanken in die Sitze.
„Wir kommen aber wieder, oder?“
Teresa sah in traurig an. Sie fühlte sich