Sollte er Tobias und Melanie im Auto warten lassen?
Die Sonne blitzte durch die Wolken hindurch, es hatte angenehme 22 Grad Celsius. Wenn die Sonne jedoch länger auf das Autodach schien, würde es im Innenraum bald unerträglich heiß werden. Er sah schon die Headline in den OÖ. News vor seinem geistigen Auge: »Großvater lässt Enkelkinder im Wagen verrecken!« Wenn er Glück hatte, würde nur »Chefinspektor vom Landeskriminalamt OÖ lässt Enkelkinder unbeaufsichtigt im überhitzten Wagen zurück« in der Zeitung stehen. Aber das würde ihn nicht vor seiner Tochter schützen. Sie würde ausrasten, wenn sie davon erfuhr. Diese Möglichkeit kam also nicht infrage. Er musste nach einer anderen Lösung suchen, wie die Kinder nichts von dem Mordfall mitbekamen.
Dann stellte sich Stern die Frage, wieso er überhaupt zu einem Todesfall auf Bahngleisen gerufen wurde? Meistens waren solche Opfer doch Selbstmörder. Was war an diesem Fall anders? Er hatte vergessen, Bormann danach zu fragen, und jetzt wusste er nicht, worauf er sich einstellen musste. Stern fluchte und blickte schuldbewusst in den Rückspiegel, doch keines der Kinder auf der Rücksitzbank hatte seinen wüsten Ausruf gehört. Nachdem ihr Streit über das Radio verklungen war, hatten beide ihre Kopfhörer eingestöpselt und wischten seither konzentriert auf dem Display je eines Smartphones herum.
Vielleicht war ja eine Polizeibeamtin vor Ort, die er bitten konnte, ein Auge auf die beiden zu werfen, bis er mit der Untersuchung des Tatortes fertig war. Er wusste, dass die Nutzung von Staatsressourcen für private Zwecke nicht erlaubt war, aber eine andere Lösung sah er nicht.
»Sind wir bald da?«, fragte Tobias, dem die Fahrt schon zu lange dauerte. Stern war nicht gerade als Raser bekannt. Die Kollegen am Landeskriminalamt witzelten über ihn, dass eine Schnecke beim Mittagsschlaf schneller sei als er mit seinem Audi A6.
»Ja, wir sind bald da.« Stern erhöhte die Geschwindigkeit um zwei Kilometer je Stunde.
»Ich muss aufs Klo«, drang es von der Rücksitzbank.
»Ein wenig dauert es noch«, antwortete Stern und überlegte, wo er auf die Schnelle auf der S10 eine Pinkelmöglichkeit für seinen Enkel finden sollte. Er hoffte, dass es nichts Dringlicheres war, denn ein paar Büsche waren hier im Mühlviertel schneller aufgetan als eine Toilettenanlage samt Klopapier.
»Du weißt ja, wie Opa Auto fährt«, meldete sich Melanie zu Wort, was Stern erstaunte. Das Getöse aus ihren Kopfhörern war sogar bis zu ihm nach vorn gedrungen. Wie hatte sie da das Gespräch zwischen ihm und Tobias mitbekommen können? Die Zwölfjährige beherrschte doch nicht etwa die Kunst des Lippenlesens?
»Ich muss aber ganz dringend!« Tobias rutschte unruhig auf seiner Sitzerhöhung hin und her.
»Ich fahr bei der nächsten Gelegenheit rechts ran.« Stern hielt nach einem Rastplatz Ausschau.
»Und ich hab Durst«, sagte Melanie, ohne den Blick vom Display ihres Handys zu nehmen.
»Und ich hab weder eine Toilette noch etwas zu trinken«, gab Stern genervt zurück, was ihm sofort leidtat. Seine Enkelkinder konnten nichts dafür, dass er von seinem Vorgesetzten zu einem Tatort bestellt worden war und ihn ihre Bedürfnisse wertvolle Zeit kosteten. Was hatte Bormann gesagt? Dass die ÖBB die Strecke so schnell wie möglich freigeben wolle. Also musste er sich ranhalten! Schließlich gab es da dieses gemeinsame Freizeitvergnügen zwischen dem ÖBB-Chef und dem Landeshauptmann, der öfter mit Bormann zu telefonieren schien, als Stern das je mit seiner Exfrau getan hatte. Im Rückspiegel sah er, wie Tobias das Gesicht zu einer Grimasse verzog. Gleich würde er zu weinen beginnen. Schweren Herzens lenkte Stern den Audi auf den Pannenstreifen, schaltete die Warnblinkanlage ein und hoffte, dass niemand von den Vorbeifahrenden ihn erkannte. Dann half er Tobias in eine Warnweste zu schlüpfen und sah ihm zu, wie er unsicher über die Leitplanke kletterte. Dahinter blieb der Junge ratlos stehen.
»Was ist? Soll ich etwa mitkommen?«, fragte Stern gereizt und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Seit Bormanns Anruf war gut eine Stunde vergangen. Die Kollegen würden eine Vermisstenanzeige aufgeben, wenn er nicht bald am Tatort erschien.
»Ich brauche etwas zum Abwischen«, sagte Tobias mit hängenden Schultern.
Stern seufzte, öffnete die Beifahrertür, ignorierte, so gut es ging, die grinsende Melanie auf dem Rücksitz, die plötzlich kein Interesse mehr an ihrem Handy zeigte, sondern durch das Seitenfenster auf den unglücklichen Tobias glotzte, kramte in der Mittelkonsole nach einer Packung Taschentücher und hielt sie Melanie hin.
»Hilf deinem Bruder«, sagte er.
Die Zwölfjährige lachte hysterisch auf, als hätte sie just in diesem Augenblick jemand in den Hintern gezwickt, wandte sich ab und wischte wieder auf dem Display herum, als ginge sie das Ganze nichts an.
Stern seufzte, zog seinen Oberkörper aus dem Audi, richtete sich zu seiner vollen Größe auf, atmete einmal tief durch und wollte sich gerade Tobias hinter der Leitplanke zuwenden, als er aus den Augenwinkeln sah, wie jemand ihm aus einem blauen Wagen heraus zuwinkte. Dominik Weber, der Gerichtsmediziner!
»Scheiße!« Stern musste zusehen, wie Weber mit 150 Sachen an ihm vorbeiraste. »Schnell! Los, mach jetzt!«, trieb er Tobias an und warf ihm die Packung Taschentücher zu. Tobias bekam sie nicht richtig zu fassen und ließ sie fallen. Umständlich fingerte er in dem hohen Gras herum. Das kostete wertvolle Zeit. Schon wieder! Als er die Packung endlich in Händen hielt, verschwand er damit hinter den Büschen, die gut zehn Meter von der Leitplanke entfernt wucherten. Stern ging vor der Fahrbahnabsperrung wie ein seit Jahren in einem Käfig eingesperrter Tiger auf und ab. Dabei wechselte sein ungeduldiger Blick zwischen den Verkehrsteilnehmern auf der S10 und den Büschen hin und her.
»Wie lange dauert das denn noch?«, rief er nach endlosen Minuten des Wartens.
»Bin gleich fertig!«, kam es leise zurück. Wie weit hatte der Junge sich entfernt, um sein Geschäft zu verrichten?, schoss es Stern durch den Kopf? Er versuchte zu erspähen, ob er durch die Blätter der Büsche etwas Farbiges von Tobias’ Kleidung hindurchblitzen sah. Doch da war nichts.
Nach weiteren zwei Minuten rief er erneut. »Mach schon, Tobias! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
»Hier hat jemand seinen ganzen Plunder abgeladen«, kam es aus den Büschen retour.
»Ich bin nicht beim Umweltschutz, Tobias. Ich bin bei der Mordgruppe des Landeskriminalamtes und muss nun endlich zum Tatort«, antwortete Stern gehetzt.
»Ich meine ja nur.« Tobias’ Schopf tauchte zwischen dem Gestrüpp auf und kam endlich näher. Stern fühlte sich bei seinem Anblick erleichtert. Einerseits, weil dem Jungen nichts passiert war – er hätte ja rückwärts eine Böschung hinunterstürzen und sich das Bein brechen können –, andererseits, weil sie nun endlich weiterfahren konnten.
»Für den Müll sind andere zuständig«, erklärte er seinem Enkel in einem ruhigeren Tonfall, während Tobias über die Leitplanke zurück auf den Pannenstreifen kletterte. Dort hielt er seinem Großvater die Packung mit den Taschentüchern hin. Eines war übrig geblieben.
»Behalte es«, sagte Stern und schob den Jungen durch die hintere Autotür hinein auf die Sitzerhöhung. Als der Sicherheitsgurt eingerastet war, eilte er um den Wagen herum und pflanzte seinen eigenen Hintern auf den Fahrersitz, schaltete die Warnblinkanlage aus und gab Gas. Nach wenigen hundert Metern bremste er wieder. Die nächste Ausfahrt musste er nehmen. Der Audi rollte von der Schnellstraße und fuhr nach dem Kreisverkehr auf der Prager Straße Richtung Freistadt. Auf der rechten Seite befand sich ein riesiges Plakat der Mühlviertler Wiesn, welche dieser Tage in Freistadt stattfand. Darauf wurde mit traditionellem Brauchtum, volkstümlicher Musik und hiesigen Schmankerln geworben. Doch der Todesfall dürfte nichts mit dem Volksfest zu tun haben, Bormann hatte schließlich die Schienen erwähnt. Irgendwo entlang der Bahnstrecke zwischen Freistadt und Summerau liege der Tote, hatte er am Telefon gesagt.
Links