Nachdenklich ließ Dominik von Wellentin-Schoenecker die Tageszeitung sinken, in der er gerade einen Artikel gelesen hatte, der ihn stark beeindruckte. Etwa dreißig Kilometer von der Kreisstadt Maibach entfernt war ein Kinderheim von einem Wasserrohrbruch heimgesucht worden, durch den zahlreiche Räume im Haus absolut unbewohnbar geworden waren. Nun suchte das Kinderheim Sankt Josef händeringend nach Pflegestellen, die einige Kinder aufnehmen konnten.
Mit der Zeitung in seiner Hand wanderte Nick durch das Haus und suchte nach seiner Mutter. Die fand er auch schon recht bald im Wintergarten. Dort hielt Denise von Schoenecker ein Schwätzchen mit Schwester Regine, der Kinder- und Krankenschwester von Sophienlust. Als Nick den Wintergarten betrat, schaute Denise ihn lächelnd an.
»Guten Morgen, Nick. Ich habe mir schon gedacht, dass du zu mir kommen würdest, um mit mir zu sprechen«, bemerkte sie. »Wie viele Kinder möchtest du denn so schnell wie möglich hier bei uns aufnehmen?«
»Woher weißt du denn, was ich gerade geplant habe?«, fragte der Achtzehnjährige verdutzt. »Kannst du jetzt etwa schon Gedanken lesen?«
»Nein, das kann ich nicht“, lachte sie. »Aber ich kann Zeitung lesen. Das habe ich heute schon ganz früh getan, und da ich dich sehr gut kenne, wusste ich, dass dich der Artikel über das Kinderheim Sankt Josef nicht kalt lassen wird. Mir war sofort klar, dass du helfen möchtest. Wenn es nicht so wäre, hätte ich mich auch sehr gewundert. Also, wie ist das nun? Seit deiner Volljährigkeit bist du der Herr von Sophienlust. Was willst du tun, und wie vielen Kindern möchtest du hier ein trockenes und sicheres Zuhause schenken?«
»So ganz genau weiß ich das selbst noch nicht«, gestand Nick. »Deswegen will ich ja mit dir reden. Dass ich helfen werde, ist keine Frage. Aber du hast mehr Erfahrung als ich. Meinst du, ich kann einfach im Kinderheim Sankt Josef anrufen und unsere Hilfe anbieten?«
»Selbstverständlich kannst du das, und du solltest diesen Anruf auch nicht auf die lange Bank schieben. Die Kinder dort sind jetzt betroffen, brauchen unverzüglich Hilfe und nicht erst nächste Woche.«
»Gut, dann setze ich mich sofort mit diesem Kinderheim in Verbindung. Ich weiß nicht, für wie viele der Kinder ein Ausweichquartier gesucht wird. Alle können wir vermutlich nicht aufnehmen, aber es gibt ja noch andere Heime oder Pflegefamilien, die helfen können, und für zwei oder drei Kinder haben wir hier bei uns genug Platz. Wenn wir ein bisschen zusammenrücken, können wir für eine Übergangszeit auch noch ein oder zwei mehr aufnehmen. Oder meinst du, dass das zu viel wären?«
Denise schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, wir wären nicht überlastet. Dieses Kinderheim ist gegründet worden, damit jedem in Not geratenen Kind Zuflucht gewährt werden kann. Im Notfall muss Platz geschaffen werden, und jeder rückt ein bisschen näher an den anderen heran. Das ist bisher immer gelungen, und du wirst es bestimmt ebenfalls schaffen, stets eine gute Lösung zu finden. Daran habe ich überhaupt keinen Zweifel.«
Nick grinste seine Mutter etwas verlegen an. »Du scheinst von mir eine wirklich sehr gute Meinung zu haben und mir voll zu vertrauen. Bist du sicher, dass du nicht irgendwann doch einmal von mir enttäuscht sein wirst, weil ich nicht den optimalen Weg zur Lösung eines Problems gefunden habe?«
»Ich bin absolut sicher, dass ich niemals von dir enttäuscht sein werde«, erwiderte Denise. »Du bist mein Sohn, der von frühester Kindheit an mit Sophienlust vertraut ist. Du hast dich immer dafür interessiert, wie dieses Kinderheim geführt wird, und wolltest alles ganz genau wissen. Schon als kleiner Junge hast du dich mit verantwortlich für alles gefühlt, was sich hier in Sophienlust ereignete. Du hast eine Menge gelernt in all den Jahren. Jetzt ist die Zeit gekommen, da du alles Erlernte anwenden und die Verantwortung, die du schon immer tragen wolltest, übernehmen kannst. Sophienlust ist dein Leben. Das weiß ich genau. Wie könnte ich da auch nur ansatzweise befürchten, dass du mich irgendwann enttäuschen könntest?«
Gerne hätte Nick etwas erwidert, spürte aber einen seltsamen Kloß im Hals. »Ich gehe dann jetzt telefonieren«, sagte er mit etwas heiserer Stimme und verließ den Raum. Was seine Mutter da gerade über ihn gesagt hatte, hatte ihn stark beeindruckt. Natürlich war Nick klar, dass sie ihn liebte und ihn für einen klugen jungen Mann hielt. Schließlich war sie seine Mutter. Aber dass sie ein so absolut unerschütterliches Vertrauen zu ihm hatte, obwohl er bis jetzt über denkbar wenig berufliche Erfahrung verfügte, erfüllte ihn schon mit Stolz.
*
Ein der Dauerkinder von Sophienlust, die siebzehn Jahre alte Irmela Groote, hatte an diesem Tag auch schon einen Blick in die Tageszeitung geworfen und den Bericht über den Wasserrohrbruch im Kinderheim Sankt Josef gelesen. Nicht einmal eine halbe Stunde später wussten sämtliche Kinder, was sich in jenem Heim ereignet hatte. Irmela persönlich hatte dafür gesorgt, dass die Nachricht überall verbreitet wurde. Nun waren die Kinder auf der Suche nach Nick. Als der aus dem Raum kam, in dem er mit seiner Mutter gesprochen hatte, wurde er sofort umringt.
»Hast du schon gelesen, was im Kinderheim Sankt Josef passiert ist?«, wollte die fünfzehn Jahre alte Angelina wissen, die wegen ihrer zahlreichen Sommersprossen allerdings nur Pünktchen genannt wurde, und hielt Nick die Tageszeitung hin.
»Ja, ich habe die Nachricht auch gelesen«, erwiderte der Achtzehnjährige. »Mir ist auch klar, warum ihr mir jetzt davon erzählen wollt. Ihr möchtet wissen, ob wir dem Kinderheim helfen und ein oder mehrere Kinder bei uns aufnehmen wollen.«
»Ja, wir wollen wissen das«, bestätigte der sechs Jahre alte vietnamesische Waisenjunge Kim, der mit der deutschen Sprache noch leichte Schwierigkeiten hatte. »Sind arme Kinder, die werden ganz nass, wenn sie müssen schlafen in nasse Betten. In Sophienlust Betten sind trocken. Deshalb wir müssen helfen Kinder von Sankt Josef.«
»Ja, das müssen wir«, pflichtete Heidi, ein sieben Jahre altes Mädchen dem kleinen Jungen bei. »Bei uns ist doch genug Platz. Das müssen wir den Leuten vom Sankt Josef-Kinderheim sagen. Die wissen nämlich wahrscheinlich überhaupt nicht, dass wir helfen können.«
Nick machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Ist ja schon gut. Ich weiß, wie wichtig es für euch ist, anderen Kindern zu helfen, die in eine schwierige Situation geraten sind. Weil mir das auch sehr wichtig ist, habe ich eben mit Tante Isi gesprochen. Wir sind uns darüber einig, dass ich gleich im Kinderheim Sankt Josef anrufe und unsere Hilfe anbiete. Alle Kinder können wir natürlich nicht aufnehmen, aber ein paar können zu uns kommen. Wenn noch mehr Leute helfen, kann bestimmt für alle Kinder gesorgt werden.«
»Wenn du telefoniert hast, sagst du uns dann, wie viele Kinder zu uns kommen werden?«, erkundigte sich Fabian, ein dreizehn Jahre alter, etwas schmächtiger Junge. »Wir sind nämlich alle recht neugierig. Es ist immer aufregend, wenn neue Kinder zu uns kommen.«
»Natürlich werdet ihr alle sofort informiert«, versprach Nick lächelnd. »Schließlich seid ihr am meisten davon betroffen, wenn wir neue Gäste bekommen.«
»Betroffen, das klingt so, als wäre es eine Qual für uns«, bemerkte Martin Felder, der nur einige Wochen älter war als Fabian. »Wir sind nicht betroffen. Wir freuen uns, wenn neue Kinder zu uns kommen, und wollen auch so schnell wie möglich wissen, wie viele es sein werden und wie alt sie sind. Es kann ja sein, dass mehrere Kinder eine Unterkunft suchen. In den meisten Heimen leben eine ganze Menge Kinder, und wenn es ein richtig großer Wasserrohrbruch gewesen ist, dann brauchen vielleicht zehn, zwanzig oder noch mehr Kinder einen Platz, an dem sie vorübergehend wohnen können. So viele können wir in Sophienlust natürlich nicht aufnehmen, aber für ein paar haben wir immer Platz. Ich bin wirklich darauf gespannt, wie die Sache laufen wird.«
»Das werden wir wahrscheinlich schon in weniger als einer halben Stunde ganz genau wissen«, entgegnete Nick und ging ins Büro, um unverzüglich mit dem Kinderheim Sankt Josef zu telefonieren.
*
Im Kinderheim Sankt Josef herrschte geschäftiges Treiben.
Zahlreiche Kinder waren zwar von Pflegefamilien und anderen Heimen aufgenommen worden, aber für die verbliebenen Schützlinge mussten in den wenigen trockenen und vom dem Wasserrohrbruch nicht beschädigten Räumen Schlafplätze eingerichtet werden. Es gab eine Menge zu tun, und als dann mitten in der Arbeit wieder einmal das Telefon läutete, verdrehte Schwester Ariane,