Eigentlich müßte der Himmel weinen, als Ulrich Karsten vor seinen Richtern steht. Aber es wölbt sich ein unwirklich blauer Himmel über der Stadt. Die Luft ist wie Seide, und die Menschen sind großzügig gestimmt.
Nur Ulrich Karsten merkt nichts davon. Alles sieht er grau in grau. Er wartet auf sein Urteil. Man hat ihn mit seinem Wärter in einen schmalen Raum gebracht. Er sieht nicht die goldenen Kringel, die die Sonnenstrahlen auf den blitzblanken, aber kühlen Fußboden malen. Nichts sieht er. Nicht den Mann, der ihn bewachen muß, der ihn aufmerksam mustert und sich seine Gedanken über seinen Gefangenen macht.
Einen Mörder hat er sich ganz anders vorgestellt. Er ist noch nicht lange im Dienst und sein Herz noch nicht verhärtet und ohne Mitleid. In den Zügen dieses Mannes, von denen man behauptet, er sei ein Mörder, sieht er nur tiefe Schatten, Schatten, die ein unerbittliches Schicksal hineingegraben hat.
Er sieht überhaupt gut aus! Er ist hochgewachsen, breitschultrig und schmal in den Hüften. Selbst nach langer Haft ist sein Gang aufrecht. Sein Haar ist dunkelbraun und schlicht aus der hohen Stirn gekämmt. Sein Mund gutgeschnitten.
Der Wärter dreht sich mit einem Ruck zur Tür und versucht seine Gedanken von dem Gefangenen abzulenken.
»Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück!« hieß es, und nun wird in einem der hohen Zimmer über Sein oder Nichtsein Ulrich Karstens entschieden.
Sie sitzen um einen langen Tisch, der Vorsitzende, die Beisitzer und die Geschworenen.
»Ich bin überzeugt«, läßt der Vorsitzende Feurig sich vernehmen, »daß er mit voller Absicht getötet hat. Also Mord.«
Die Geschworenen sehen bleich und abgespannt aus. Es hat einen heißen Kampf zwischen dem Staatsanwalt Kerst und dem Verteidiger Doktor Ernst Rauh gegeben. Sie rauchen hastig ihre Zigaretten. Selbst die einzige Frau unter ihnen, Eva-Maria Harris, hat zur Zigarette gegriffen. Sie gibt sich nach außen hin gelassen. Keiner ahnt, was sie diese Ruhe kostet. Jeder Nerv an ihr zittert.
Sie hört das Gemurmel um sich wie aus weiter, weiter Ferne. Sie kommt sich wie auf einer einsamen Insel vor, ganz ihren quälenden Gedanken preisgegeben. Und noch etwas hält sie eisern gepackt, Angst! Eine wahnsinnige, jedes andere Gefühl unterdrückende Angst. Jawohl, sie hat Angst um den Mann, über den man zu Gericht sitzt, und den sie liebt.
Sie weiß, daß diese Liebe niemals Erfüllung finden wird. Sie weiß, daß es niemals einen Weg von ihr zum Herzen Ulrich Karstens geben wird.
Sein Herz liegt gefesselt in den Banden der einzigen Frau, die ihn hätte retten können und die ihn, keines Blickes würdigend, im Gerichtssaal verriet.
»Ich verweigere die Aussage!«
Mit harter Stimme hat es die schöne blonde Frau mit den grünen Augen gesagt, und ihr stand als Verlobte des Angeklagten das Recht dazu zu.
Das alles erlebt Eva-Maria Harris noch einmal so deutlich, daß ihr das Herz davon schmerzt. Über die Köpfe der Anwesenden hinweg irrt ihr Blick hinüber zu dem Fenster.
Mein Gott! Man wird ihn verurteilen! Er wird lange, vielleicht niemals wieder die Freiheit erlangen.
Lieber Gott! Das kann doch nicht wahr sein! Niemals hat er die Absicht gehabt, John Unger zu töten. Man hat ihn gereizt. Man hat ihn vielleicht angegriffen. Er hat in Notwehr gehandelt!
Plötzlich ist es, als gehe ein Ruck durch ihren Körper. Ich darf nicht träumen. Ich muß ganz aufmerksam sein.
»Ich weiß nicht«, hört sie jetzt Brandt, den Handwerksmeister, sagen. »Mord möchte ich nicht behaupten. Vielleicht Notwehr?«
»Mord?«
Aller Augen sind auf Eva-Maria Harris gerichtet, die dieses Wort entsetzt ausspricht. »Ich glaube nicht daran«, setzt sie bestimmt hinzu.
Präsident Feurig, ein schlanker weißhaariger Mann, mit klaren, durchdringenden Augen, lächelt.
»Liebe, gnädige Frau, hier geht es nicht um Glauben oder Nichtglauben. Hier geht es um Beweise. Der Angeklagte hat gestanden –«
»– und sich dann ausgeschwiegen«, zittert es erregt von Eva-Marias Lippen. »Nicht einmal sein Anwalt hat Licht in das Dunkel der Tat bringen können. Und die einzige Zeugin, die ihn hätte entlasten können, hat geschwiegen.«
»Oder sie hat geschwiegen, um ihn nicht zu belasten«, wirft der Präsident gütig ein. Er mag sie gern, diese aparte, auffallend schöne Frau, mit dem leuchtenden Haar und den jetzt ganz dunkel erscheinenden Blauaugen, die das zarte Gesicht völlig beherrschen.
»Aber das sind doch alles nur Vermutungen«, stößt sie rauh hervor. »Man kann doch einen Menschen nicht verurteilen, wenn man nicht von seiner Schuld überzeugt ist.«
»Sind Sie es nicht, gnädige Frau?«
Diese Frage wirft Eva-Maria völlig aus dem Gleichgewicht. Sie streicht sich über die Stirn. Sie fühlt sich naß an. Kleine Schweißtropfen stehen darauf. Hastig sucht sie nach ihrem Taschentuch und tupft über die Stirn. Sie zwingt sich eisern zur Ruhe.
»Nein!«
»Und sein Geständnis?«
Sie fühlt die Augen der anwesenden Männer auf sich gerichtet.
»Es kann aus edlen Motiven gegeben sein.«
»Wir haben kein edles Motiv gefunden«, antwortet Feurig. »Was uns der Angeklagte verschwiegen hat, haben wir versucht allein zu finden. Es war nichts da. Er hat diesen John Unger erschossen, aus Eifersucht. Das ist kein edles Motiv.«
Eva-Maria Harris sinkt etwas in sich zusammen. Sie spürt ihr Herz bis zum Hals herauf hämmern.
»Ist Ihnen nicht wohl?« schlägt die Stimme des Vorsitzenden an ihr Ohr.
Sie lächelt schwach, hilflos. »In der Tat«, stammelt sie und lehnt sich mit geschlossenen Augen zurück. »Wenn ich um ein Glas Wasser bitten dürfte?«
Ein Gerichtsdiener wird herbeigeklingelt, und er kehrt mit dem Gewünschten zurück. Eva-Maria nimmt ein paar tiefe Schlucke. Dann setzt sie das Glas bedächtig vor sich hin. Es ist eine gewollt langsame Bewegung.
»Es kann sich doch niemals um einen Mord handeln – höchstens um Notwehr«, knüpft sie wieder an das Vorhergesagte an. »Wir wissen, daß der Angeklagte John Unger mit seiner Verlobten überrascht hat. Sie hat sich gewehrt gegen den Mann, und da ist der Angeklagte ihr beigesprungen. So sehe ich jedenfalls die Tat. Ich gebe zu, daß auch Eifersucht dabeigewesen sein mag – aber daß es zu der Tat kam, war die Reaktion auf das Handgemenge, in das seine Verlobte verwickelt war.«
Erstaunt zieht der Vorsitzende die Brauen hoch.
»Woher wollen Sie das wissen? Das steht weder in den Akten, noch ist es in den Vernehmungen zur Sprache gekommen.«
Hilflos zuckt Eva-Maria mit den Achseln. »Ich betonte schon, so sehe ich die Tat. Ich kann nur von Notwehr sprechen.«
Eine Debatte setzt ein, an der sich Eva-Maria Harris nicht beteiligt, aber aufmerksame Zuhörerin ist. Kein Wort entgeht ihr.
Doch sie fühlt, daß eine andere Stimmung unter den Anwesenden herrscht wie zu Beginn. Ihre Augen irren umher, bleiben an dem Zifferblatt der Uhr haften. Noch zehn Minuten Zeit – denkt sie, und sie ist der Verzweiflung ausgeliefert.
Mit einem schwachen Laut, den keiner vernommen hat, so sehr sind sie in Reden und Gegenreden vertieft, lehnt sie sich tief in ihre Sessel zurück.
Nur nicht ohnmächtig werden – denkt sie, aber dann wird es schon dunkel um sie. Dunkel, und barmherzige Ruhe hüllt sie ein.
*
Zur selben Zeit steht Dr. Ernst Rauh, mittelgroß, ziemlich beleibt, aber von einer Lebhaftigkeit, die man ihm nie zugetraut hätte, vor dem stummen Mann, den er verteidigt hat, verteidigen mußte.
»Menschenskind, so reden Sie doch«, schreit er wütend. Er möchte diesem Mann, den er als Mensch wie als begabten, modernen Architekten schätzengelernt hat, helfen, und er spürt, wie dieser selbst sich alle Wege verbaut.
»Karsten«,