Sophienlust Classic 40 – Familienroman. Bettina Clausen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bettina Clausen
Издательство: Bookwire
Серия: Sophienlust Classic
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783740963262
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> Sophienlust Classic – 40 –

      »Liza, hör auf, mir die Haare zu zerstruwweln«, rief der fünfjährige Rolf und packte sein übermütiges Schwesterchen bei den Handgelenken. Das dichte dunkle Haar hing ihm widerspenstig in die Stirn.

      »Au, lass mich los«, wehrte sich Liza. »Du denkst, weil du ein Jahr älter bist, kannst du alles mit mir machen, was du willst.« Sie entwand ihre Hände dem Bruder und lief durch den Garten aufs Haus zu.

      »Wo willst du hin?«, rief Rolf ihr nach.

      »Zu Mutti!«

      »Bleib da! Oder hast du vergessen, dass wir sie den ganzen Nachmittag in Ruhe lassen wollten, weil sie sich nicht wohlfühlt?«, erinnerte Rolf seine Schwester.

      Liza blieb stehen und strich sich die blonden Locken aus dem Gesicht. Ein enttäuschter Ausdruck trat in ihre Augen. »Ooch«, machte sie. »Warum geht es Mutti so oft schlecht?«

      »Weiß ich doch nicht. Auf jeden Fall dürfen wir sie nicht immer stören, wenn sie sich mal hinlegt.«

      »Sie legt sich aber oft hin«, schmollte Liza. Sie hatte ein großes Bedürfnis nach Liebe und Zärtlichkeit. Und gerade das vermisste sie in der letzten Zeit bei der Mutter.

      »Na ja, weil sie sich eben oft nicht wohlfühlt und Ruhe braucht«, erklärte der Bruder seiner Schwester altklug.

      »Das ist aber gar nicht schön. Man kann nie mit Mutti spielen und sie auch gar nichts mehr fragen«, beschwerte sich Liza. »Wenn Vati wenigstens da wäre …« Es klang wie ein Seufzer.

      »Dass Mädchen immer so quengelig sein müssen«, schnaufte Rolf. »Vati ist weit weg in Afrika. Er kann nicht hier sein, weil er dort arbeiten muss. Schließlich hast du ja mich.«

      »Phh«, machte Liza und winkte mit der Hand ab. »Dich kann ich doch nicht das fragen, was ich Vati fragen möchte.«

      »Dann musst du eben noch ein halbes Jahr warten, bis Vati wiederkommt«, antwortete Rolf beleidigt.

      »Warum muss er so lange in Afrika bleiben?«, wollte Liza zum soundsovielten Male wissen.

      »Weil er dort Häuser baut«, erklärte der Bruder überlegen.

      »Er baut selbst Häuser?«, fragte Liza verwundert.

      Rolf schlug sich mit der Hand vor den Kopf, wie er es von Erwachsenen gesehen hatte. »Natürlich baut er selbst keine Häuser. Vati ist Architekt, er macht die Pläne dafür.« Wie das in Wirklichkeit aussah, konnte er sich allerdings selbst nicht vorstellen. Aber das hätte er natürlich nie zugegeben.

      Liza war gekränkt. »Wenn ich dir nicht gescheit genug bin, dann brauchst du ja nicht mit mir zu spielen«, stellte sie beleidigt fest und lief davon.

      Doch das konnte Rolf nun wieder nicht ertragen. Er liebte seine Schwester zärtlich, auch wenn er ihr ab und zu zeigen musste, wer der Ältere und Klügere war. »Lizalein, warte doch«, rief er und lief ihr nach. »So habe ich das doch nicht gemeint«, entschuldigte er sich atemlos, als er sie eingeholt hatte.

      Liza schaute den Bruder an und sagte nichts.

      Bittend ergriff Rolf ihre Hand. »Bist du wieder gut?«

      Liza nickte. Sie hätte einen Streit mit dem Bruder gar nicht ertragen. Plötzlich verdunkelten sich ihre Augen. »Rolfi, glaubst du, dass Mutti sterben muss?«, fragte sie kläglich und hilflos.

      »Wie kannst du so etwas Dummes fragen!«, platzte da der Bruder wieder ärgerlich heraus.

      Sofort begann Liza zu weinen. »Wenn sie doch so krank ist und wir sie nicht stören dürfen«, schluchzte sie.

      Schreckliche Angst überfiel Rolf. Hilflos legte er seiner Schwester den Arm um die Schulter und bat: »Wein doch bitte nicht, bitte, sonst muss ich auch weinen. Mutti stirbt bestimmt nicht. Wir brauchen sie doch!«

      Mit tränenblinden Augen schaute Liza den Bruder an.

      »Wir haben ja sonst niemand, nicht wahr? Vati ist weit fort, und unsere große Schwester kennen wir fast gar nicht.«

      »Du meinst Ramona?«, fragte Rolf.

      Liza nickte.

      »Sie ist ja unsere Stiefschwester«, belehrte Rolf seine kleine Schwester.

      »Was ist Stiefschwester?«, wollte Liza wissen.

      Sie ist unsere Stiefschwester, weil unser Vati nicht ihr Vati ist«, erklärte Rolf der Schwester.

      »Das verstehe ich nicht«, beschwerte sich Liza. »Wer ist denn dann ihr Vati?«

      »Ach, das weiß ich auch nicht. Die Erwachsenen haben lauter so komische Sachen«, schimpfte Rolf, der nun auch durcheinandergeraten war. »Auf jeden Fall ist unsere Mutti ganz bestimmt auch Ramonas Mutti.«

      Lizas Züge hellten sich auf. Sie nickte. Das leuchtete ihr nun wieder ein. »Dann hat sie uns bestimmt auch lieb, nicht wahr?«

      »Wer? Ramona?«

      »Ja. Möchtest du nicht, dass sie immer bei uns ist?«, fragte Liza.

      Rolf zuckte die Schulter.

      »Weiß ich nicht. Wir haben sie ja nur einmal gesehen, als wir in Heidelberg bei unserer Tante waren. Und daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Vielleicht ist sie recht eingebildet.«

      »Das glaube ich nicht«, verteidigte Liza die große Schwester. »Sie ist bestimmt nett.«

      Sie beratschlagten noch eine Weile, ob sie Ramona nett finden sollten oder nicht, da rief die Mutter nach ihnen. Wie auf Kommando rasten sie alle beide zum Haus.

      »Siehst du, Mutti ist aufgestanden«, rief Liza noch im Laufen dem Bruder zu. Einen Moment lang hoffte sie, die Mutter würde die Arme ausbreiten und sie auffangen, wie sie es früher immer getan hatte.

      Doch dazu fühlte Marianne Timbre sich zu schwach. Sie bemühte sich um ein Lächeln und streckte ihren Kindern beide Hände entgegen. »Na, war es schön im Garten?«

      »Ja«, bestätigten alle beide begeistert. »Es ist schon richtig warm.«

      »Werden die Bäume bald blühen?«, wollte Liza wissen.

      »Lange kann es nicht mehr dauern«, verriet ihr die Mutter. Dann brachte sie die beiden ins Badezimmer, damit sie sich vor dem Essen noch die Hände wuschen.

      »Hast du keinen Hunger, Mutti?«, fragte Liza während des Essens, als Marianne Timbre ihren Teller fast unberührt wieder von sich schob.

      Ein gequälter Ausdruck trat in die Augen der Frau. Sie wusste, dass sie den Kindern ein schlechtes Beispiel gab. Aber das Schwächegefühl war einfach nicht zu überwinden.

      Da kam Rolf ihr mit sicherem Instinkt zu Hilfe. »Du siehst doch, dass Mutti sich nicht wohlfühlt, Liza. Und wenn es einem nicht gut geht, kann man auch nichts essen. Stimmt’s Mutti?«

      Dankbar streichelte Marianne die Hand ihres Sohnes. »Du bist wirklich ein kluger Junge«, lobte sie, bemühte sich jedoch im gleichen Augenblick auch um Liza, um keinerlei Eifersucht aufkommen zu lassen.

      Mit einem innigen Kuss brachte Marianne Timbre Liza und Rolf schließlich zu Bett.

      Es hilft nichts, ich muss morgen zum Arzt gehen, nahm sie sich vor, bevor der Schlaf auch sie übermannte.

      Gleich am nächsten Morgen bat sie ihre Haushälterin, auf die Kinder achtzugeben, da sie zum Arzt müsse.

      »Das wird aber auch Zeit, gnädige Frau«, mahnte die ältere Frau besorgt. »Sie hätten schon viel früher gehen müssen.«

      Seit die Mutter sich so schlecht fühlte, besuchten Liza und Rolf jeden Vormittag einen Kindergarten. Doch eigenartigerweise konnten sie sich nicht einleben, obwohl sie ansonsten aufgeschlossen und kontaktfreudig waren. Sie freuten sich jeden Mittag, wenn sie wieder nach Hause durften.

      An diesem Mittag war die Mutter nicht da, als sie nach Hause kamen.

      »Eure Mutti muss jeden Moment kommen«, versuchte die Haushälterin die Kinder abzulenken.

      »Aber wo ist sie denn?«, wollte Rolf nun wissen.