Ein grauer Morgen hing über den Dächern der Großstadt. Hanna saß in eine Decke eingehüllt auf ihrer kleinen Dachterrasse und schaute mit brennenden Augen über das Häusermeer in eine endlos scheinende Ferne. Vor weniger als zwei Stunden war die Mutter von Kira und Nils Witwe geworden. Bis zuletzt hatte Hanna seine Hand gehalten. Doch Bernd Müller hatte den Druck ihrer Hand nicht mehr erwidern können.
Das Telefon klingelte. Hanna verließ ihren Platz und ging die wenigen Schritte bis zum Apparat. Eine Strecke, die ihr auf einmal unwirklich lang erschien.
»Müller!«
»Ich bin es, Hanna. Simone. Ich habe soeben erfahren, daß Bernd in der Nacht verstorben ist.«
Simone Kretschmer war Ärztin im St.-Josefs-Krankenhaus und Hannas beste Freundin. »Ja, Simone. Er ist gegen vier Uhr morgens eingeschlafen«, antwortete Hanna tonlos.
»Wie geht es dir, Hanna? Kann ich im Augenblick etwas für dich tun?« fragte Simone besorgt.
»Nein. Was willst du tun? Ich brauch’ jetzt einfach ein bißchen Zeit für mich. Zum Glück sind die Kinder bei meiner Mutter.«
Hanna machte eine Pause.
»Es ist schon hart, wenn es dann passiert. Ich wußte ja seit langem, daß Bernd sterben würde, und du weißt ja auch, wie es um unsere Ehe stand«, sagte Hanna langsam. Simone wußte es. Bernd hatte Hanna wenige Wochen vor Ausbruch der Krankheit verlassen, um mit einer anderen Frau zusammenzuleben. Doch als er Hilfe und Beistand brauchte, war es nicht die neue Frau gewesen, die zu dem kranken Mann gehalten hatte, sondern Hanna. Als die ersten sichtbaren Symptome der Krebserkrankung Bernd zeichneten, hatte seine Freundin das Weite gesucht und war seitdem nicht mehr aufgetaucht.
»Ich habe überlegt von hier fortzugehen«, sagte Hanna plötzlich, und es klang so, als hätte sie erst soeben diesen Gedanken ins Auge gefaßt.
»Wieso?« fragte Simone nur.
»Nun, ich würde gern aufs Land ziehen…«
»Um Himmels willen! Du willst doch wohl kein Landei werden, Hanna«, sagte Simone in ihrer gewohnt direkten Art. Hanna lächelte leise. »Sicher denkst du jetzt, daß dies bloß eine momentane Laune von mir ist. Aber ich möchte schon seit langem lieber auf dem Land leben. Das Leben in der Großstadt war immer mehr Bernds Sache gewesen. Ich bin, wie du weißt, sehr naturverbunden.«
»Aber wohin denn? Und wo willst du wohnen?«
»Ach, davon habe ich dir noch gar nichts erzählt. Bernd hat mir ein Haus vererbt. Es hat seiner Tante gehört, die letzten Winter verstorben ist.«
»Was ist das für ein Haus?«
»Keine Ahnung. Ich habe es noch nie gesehen.«
Simone seufzte. »Also, ich weiß nicht, Hanna. Das hört sich für meine Ohren nicht sehr durchdacht an.« Simone versuchte sich ihre lebhafte Freundin mit den naturblonden Haaren und den strahlend blauen Augen in irgendeinem kleinen Kaff vorzustellen. Es wollte ihr nicht gelingen. Aber vielleicht war es auch gut, daß Hanna jetzt neue Pläne ins Auge faßte, dachte Simone. Sicher war es besser, als in Depressionen zu fallen. Simone seufzte.
»Wann willst du es eigentlich den Kindern sagen?« fragte Simone, der plötzlich eingefallen war, daß die Kinder noch nichts von dem Tod ihres Vaters wußten.
»Am liebsten würde ich meine Mutter bitten, es ihnen zu erklären. Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«
»Hm. Die Kleine wird es noch nicht verstehen. Und Nils… Bernd war fast ein Jahr lang krank… Vielleicht hat Nils schon Abschied genommen, ohne daß du es bemerkt hast, Hanna.«
»Ich hoffe es… Weißt du, ich muß immer daran denken, daß Nils auch dann keinen Vater mehr hätte, wenn Bernd gesund geblieben wäre…«
»Ja, damals sah es so aus… Habt ihr eigentlich jemals wieder davon gesprochen, Bernd und du?«
»Über diese Frau? Nein.«
»Bedauerst du das?«
»Nein, jetzt ist es zu spät. Was jetzt nicht gesagt wurde, kann nie wieder gesagt werden. Ich weiß nicht, ob ich das bedauern soll. Es ist, wie es ist.«
Hanna hatte recht, dachte Simone. Bernd war tot. Daran ließ sich nichts ändern und auch nicht an den Dingen, die hinter ihnen lagen. Hanna mußte nach vorn blicken. Sie hatte kleine Kinder, deren Leben noch vor ihnen lag. Und das Glück ihrer Kinder bedeutete Hanna alles. Als Simone den Hörer aufgelegt hatte, merkte sie plötzlich, wie sich ihre Kehle zusammenschnürte und ihre Augen sich mit Tränen füllten. Eine Welle des Mitleids, das sie bisher zurückgehalten hatte, durchströmte sie jetzt mit aller Macht. Das Schicksal war ungerecht. Eine Frau wie Hanna hatte nicht verdient, vom Leben so herausgefordert zu werden. Wo blieb da die Gerechtigkeit? Eine Frage, auf die Simone lange keine Antwort bekommen würde.
*
Auf dem Pferdegut Steineck herrschte bereits seit den frühen Morgenstunden rege Betriebsamkeit. In der Nacht hatte sein Besitzer Kai Laubach den Tierarzt gerufen, weil eine trächtige Stute Probleme bekommen hatte. Michael Hollstein war auch sofort ohne zu zögern gekommen und das nicht nur, weil Kai ein guter Freund von ihm war, sondern weil er seinen Job sehr ernst nahm. Gemeinsam hatten die beiden Männer bei der Stute Jolanda gewacht, und im Morgengrauen hatte sie es dann geschafft. Auf wackeligen Beinen stand das kleine Fohlen neben seiner Mutter in der Box und wurde von ihr ausgiebig beschnuppert. Als es zum ersten Mal getrunken hatte, waren die Männer hoch zufrieden und erleichtert ins Gutshaus gegangen, um bei einer Tasse Kaffee ihrer Müdigkeit zu trotzen. Kais Haushälterin Ruth, eine korpulente ältere Dame mit schneeweißen Haaren und rosigen Wangen, hatte den Freunden zu dem Kaffee frischen Hefekuchen gereicht.
»Seit wann sind Sie denn auf den Beinen, Herr Laubach?« fragte Ruth besorgt. Der Gutsherr, ein gut aussehender Vierziger mit bereits grauen Schläfen, sah müde und abgespannt aus. Kai winkte ab, als lohne es sich nicht, darüber nachzudenken.
»Das Beste wird sein, wenn du jetzt gleich ins Bett gehst. Ich schaue heute abend noch einmal rein, wenn’s recht ist«, schlug Michael vor.
»Was ist denn mit dir? Du warst doch auch die ganze Nacht auf den Beinen?«
»Ja«, lachte der Tierarzt. »Aber ich habe heute morgen noch einen Termin bei Bauer Kleinschmitt. Den kann ich nicht absagen.« Er nahm einen Schluck Kaffee und reckte seine Arme weit nach oben, als könne ihm ein bißchen Gymnastik die Müdigkeit aus den Gliedern treiben.
»Danke für den Kaffee, Ruth, und den Kuchen!« rief er in die große Küche, wo Ruth schon wieder vor sich hin werkelte.
»Oh, nichts zu danken, Herr Doktor. Wollen Sie denn schon wieder gehen? Ich wollte den Herren noch etwas erzählen.« Ruth trocknete ihre Hände an der Schürze und baute sich mit wichtiger Miene vor den Männern auf.
»Sie kennen doch das kleine Häuschen von der alten Müllerin, nicht wahr?« Die beiden Männer hörten ohne großes Interesse zu, nickten aber höflich.
»Raten Sie mal, was ich gehört habe«, versuchte Ruth die Männer auf die Folter zu spannen.
»Das erraten wir nie«, behauptete Kai und verdrehte die Augen. Natürlich so, daß Ruth es nicht sah.
»Eine Frau mit zwei Kindern ist dort eingezogen. Sie kommt aus der Stadt«, verkündete Ruth und genoß ihren Wissensvorsprung.
»Tatsächlich? Jemand aus der Stadt? Das hätte ich nun wirklich nicht vermutet«, sagte Michael erstaunt.
»Wieso? Unser Thalbach ist doch ein wunderschöner Ort«, entgegnete Ruth.
»Schon, aber wer sich hier niederläßt, muß das Landleben schon mögen«, unterstützte Kai den Tierarzt.
»Vielleicht spielen noch andere Gründe eine Rolle«, überlegte Michael.
»Wie meinen Sie das? Meinen Sie, es ist jemand mit einem Schicksal?« fragte Ruth plötzlich ganz aufgeregt, und Michael Hollstein bedauerte sogleich, diesen Gedanken überhaupt geäußert zu haben. Die gute Ruth machte aus allem eine Geschichte.
»Nein, Ruth. Ich habe neulich erst gelesen, daß sich wieder mehr Menschen