„Ich glaube, ich hätte mehr Distanz gebraucht, als nur ein paar Häuser die Straße hinunter“, sagte Moulton. „Ich meine, kannst du dir vorstellen, was der arme Kerl durchmacht?“
„Aber es könnte auch sein, dass er nah bei seinem zu Hause sein will“, erwiderte Chloe. „Nah an dem Ort, an dem er und seine Frau ihr Leben teilten.“
Moulton schien darüber nachzusinnen, als er den Leihwagen näher zu der Adresse in der Wohnsiedlung fuhr, die ihnen die Staatspolizei weitergeleitet hatte, während sie unterwegs waren. Es war ein weiteres Beispiel dafür, wie Chloe die fließende Arbeitsweise des Büros sowohl zu verstehen als auch zu respektieren begann. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, dass praktisch jede Information, die sie benötigte – sei es Adressen, Telefonnummern, Berufslaufbahnen, Vorstrafenregister – jederzeit zugänglich waren, lediglich ein Telefonat oder eine E-Mail entfernt. Sie vermutete, dass sich Agenten schlussendlich daran gewöhnten, aber bislang fühlte sie sich noch sehr geehrt, Teil eines solchen Systems zu sein.
Sie kamen bei der Adresse an und gingen zur Haustür. Auf dem Briefkasten stand Lovingston und das Haus selbst war eine genaue Kopie von nahezu jedem anderen Haus in der Nachbarschaft. Es war die Art von Nachbarschaft, wo die Häuser direkt nebeneinander gebaut waren, aber die Umgebung trotzdem ruhig war – ein guter Ort für Kinder, um Fahrradfahren zu lernen und vermutlich eine Menge Spaß zu Halloween und Weihnachten.
Chloe klopfte an der Tür und sie wurde sofort von einer Frau geöffnet, die ein Baby in ihrem Arm hielt.
„Sind Sie Mrs. Lovingston?“, fragte Chloe.
„Das bin ich. Und Sie müssen die FBI-Agenten sein. Wir haben vor einer Weile den Anruf der Polizei bekommen, dass Sie auf dem Weg sind.“
„Ist Jerry Hilyard noch bei Ihnen?“, fragte Moulton.
Ein Mann erschien hinter der Frau. Er kam aus dem offenen Zimmer auf der linken Seite. „Ja, ich bin noch hier“, sagte er. Er stellte sich neben Mrs. Lovingston und lehnte sich gehen den Türrahmen. Er sah unglaublich erschöpft aus, offensichtlich, weil er nicht gut geschlafen hatte, seitdem er seine Frau auf eine so brutale Weise verloren hatte.
Mrs. Lovingston drehte sich zu ihm um und warf ihm einen Blick zu, der Chloe denken ließ, dass dem Baby in ihrem Arm in der Zukunft auch einige böse Blicke zukommen würden. „Bist du dir sicher, dass du dafür bereit bist?“, fragte ihn die Frau.
„Ich schaffe es, Claire“, sagte er. „Danke.“
Sie nickte, drückte ihr Baby fester an ihre Brust und machte sich auf den Weg zu einem anderen Ort im Haus.
„Nun, dann kommen Sie herein, würde ich sagen“, sagte Jerry.
Er führte sie in dasselbe Zimmer, aus dem er gekommen war. Es schien eine Art kleines Arbeitszimmer zu sein, welches hauptsächlich mit Büchern und zwei elegant aussehenden Stühlen eingerichtet war. Jerry fiel in einen der Stühle, als ob seine Knochen begonnen hatten, aufzugeben.
„Ich weiß, dass es scheint, als hätte Claire leichte Vorbehalte wegen Ihrer Anwesenheit hier“, sagte Jerry, „Aber … Lauren und sie waren gute Freunde. Sie denkt, ich muss trauen … was ich auch tue. Es ist nur …“
Er hielt inne und Chloe konnte sehen, dass er mit einer Flut von Gefühlen zu kämpfen hatte und versuchte, das Gespräch zu überstehen, ohne vor ihnen zusammenzubrechen.
„Mr. Hilyard, ich bin Agentin Fine und das hier ist mein Partner, Agent Moulton. Ich frage mich, ob Sie uns über alle politischen Verbindungen, die Ihre Familie eventuell hat, berichten können.“
„Jesus“, schnaufte er, „Das ist alles so aufgebauscht worden. Die örtliche Polizei hat ein Riesentheater daraus gemacht und ist total ausgeflippt. Ich bin mir sicher, das ist auch der Grund dafür, dass Sie eingeschaltet wurden, nicht wahr?“
„Bestehen denn politische Verbindungen?“, fragte Moulton, um die Frage zu umgehen.
„Laurens Vater war damals ein guter Golf-Kumpel des Verteidigungsministers. Sie sind zusammen aufgewachsen, haben Football zusammen gespielt, all das eben. Gelegentlich verbringen sie auch jetzt noch Zeit miteinander – Enten jagen, angeln, solche Dinge.“
„Hat Lauren jemals mit dem Minister gesprochen?“, fragte Chloe.
„Nicht, seitdem wir geheiratet haben. Er kam zu unserer Hochzeit. Wir bekommen eine Weihnachtskarte von seiner Familie. Aber das ist auch schon alles.“
„Meinen Sie also, dass das, was hier passiert ist, etwas mit dieser Beziehung zu tun haben könnte?“, fragte Moulton.
„Wenn dem so ist, habe ich keine Ahnung wieso. Lauren hat sich überhaupt nicht für Politik interessiert. Ich glaube, es ist nur ein Weg für ihren Vater, sich selbst wichtig zu machen. Jemand hat sein kleines Mädchen umgebracht, also muss es damit zu tun haben, dass er wichtige Leute kennt. Er ist so ein Arsch.“
„Was können Sie uns über die letzten Tage in Laurens Leben erzählen?“, fragte Chloe.
„Ich habe der Polizei schon alles gesagt, was ich konnte.“
„Dafür haben wir Verständnis“, sagte Moulton. „Und wir haben Kopien all ihrer Berichte erhalten. Aber damit wir hier angemessen Fuß fassen können, kann es sein, dass wir einige Fragen stellen werden, die dazu führen, dass Sie ein paar Dinge wiederholen müssen.“
„In Ordnung, das ist okay“, sagte Jerry.
Chloe dachte zu sich, dass der Mann vielleicht nicht ganz wusste, was hier vonstattenging. Er sah unglaublich distanziert aus. Wenn sie nicht schon von der traumatischen Situation gewusst hätte, die er gerade durchlebte, dann hätte sie vermutlich angenommen, dass er Drogen nahm.
„Die erste Frage klingt im Angesicht des Geschehens vielleicht etwas merkwürdig“, sagte Chloe. „Aber können Sie an irgendjemanden denken, der einen Grund gehabt hätte, wütend auf Ihre Frau zu sein?“
Er lächelte höhnisch und schüttelte seinen Kopf. Als er sprach, zitterte seine Stimme in einer Art ewigen Gähnens. „Nein, Lauren blieb in letzter Zeit oft allein. Sie war introvertiert. Das war in der jüngsten Vergangenheit sogar noch schlimmer geworden … sie war sehr in sich zurückgezogen, wissen Sie?“
„Haben Sie eine Ahnung wieso?“
„Sie hatte eine üble Vergangenheit. Verkorkste Eltern und dergleichen. Sie war eine Art Mobber in der High-School. Ich glaube, so würde man das heutzutage bezeichnen. Oder vielleicht ein fieses Mädchen. Sie hat sich mit diesen Fehlern in letzter Zeit auseinandergesetzt. Ich glaube, es wurde schlimmer, als diese verdammte Einladung zum High-School Klassentreffen in der Post ankam.“
„War sie besorgt, hinzugehen?“, fragte Chloe.
„Ich bin mir nicht sicher. Es machte sie traurig, glaube ich … an die Leute zu denken, zu denen sie vielleicht früher gemein gewesen war.“
„Haben Sie beide zusammen Ihren Schulabschluss gemacht?“, fragte Moulton.
„Ja, das haben wir.“
„Und sind Sie mit ihr zum Klassentreffen gegangen?“
„Um Gottes willen, nein. Ich hasse solche Sachen. Posieren und so tun, als ob man Leute mag, die man in der High-School hauptsächlich gehasst hat. Nein, ich habe es ausgesessen.“
„Sie sagten, sie war introvertiert“, sagte Chloe, „Hatte sie nicht