Auch im deutschen Berufsverband gibt es keine Sektion, die sich der Sexualität annimmt.2 Da sexuelle Probleme sich typischerweise innerhalb von Beziehungen abspielen, wäre die Psychotherapie eine naheliegende Behandlungsmethode, statt die Sexualtherapie zu delegieren und auszulagern in ein anderes Fachgebiet. Zum Glück kann hier Abhilfe geschaffen werden. Wie Moser (2009) argumentiert, wären bereits ein paar wenige Artikel in psychologischen Zeitschriften hilfreich, die thematisieren, wie einfach es ist, verhaltenstherapeutische, kognitive und psychodynamische Ansätze bei der Behandlung von sexuellen Herausforderungen anzuwenden. Darüber hinaus könnten im ganzen Land Interessengruppen etabliert werden. Psychologen könnten sich in höherem Maße in die sexualpolitischen Debatten einmischen und in den Medien äußern. Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, die Sexologie sei ein Spezialgebiet – oder, schlimmer noch, im Grunde überflüssig. Sehr viel mehr Menschen könnte geholfen werden, wenn wir diese Aufgabe gemeinsam angingen.
Institutionalisierte Unwissenheit
In vielen Ausbildungsgängen wird der Sexologie als Fach keine Priorität eingeräumt. Im Studienfach Psychologie gilt sie in Dänemark zum Beispiel nur als Wahlfach, und derzeit (2019) steht die Sexualwissenschaft an den größten Universitäten Dänemarks, in Aarhus und Kopenhagen, gar nicht auf dem Lehrplan. Auch im deutschsprachigen Raum sind sexualwissenschaftliche Themen in den Studiengängen immer noch zu spärlich vertreten (Briken u. Berner 2013). Obwohl ein erregendes und befriedigendes Sexualleben sehr viel heilsamer ist als viele Medikamente, achten selbst Ärzte und Psychologen in der Regel nicht darauf – das Thema kommt in Studium und Ausbildung nach wie vor allenfalls am Rande vor (Sigursch 2013). Ohne das nötige Fachwissen prägen meist die eigenen Werte und Haltungen der Therapeuten den Zugang zum Thema; oft geschieht dies sogar, ohne dass sich die Beteiligten darüber im Klaren wären, falls sie es sich überhaupt zutrauen, mit ihren Klienten über Sexualität zu sprechen.
In Krankenhäusern hat das Thema ebenfalls einen niedrigen Stellenwert; es wird als Luxusproblem aufgefasst, weil es nicht um Leben oder Tod geht. Für manche Menschen stellt sich jedoch die Frage, ob ein Leben ohne Sexualität überhaupt lebenswert ist (Kristensen 2007). Im Gesundheitswesen arbeiten noch immer Menschen, die der Meinung sind, dass ältere, behinderte oder kranke Menschen keine sexuellen Bedürfnisse haben. Die Ursache dafür ist möglicherweise, dass manche Menschen nach wie vor Sexualität ausschließlich mit Fortpflanzung gleichsetzen. Andere akzeptieren vielleicht, dass diese Menschen sexuelle Gefühle haben, aber sie glauben, dass hohes Alter, Krankheit und Behinderung mit sexuellen Aktivitäten unvereinbar seien. Um ihren Klienten helfen zu können, müssen Fachkräfte in erster Linie akzeptieren, dass auch kranke, behinderte und ältere Menschen sexuelle Wünsche und Bedürfnisse empfinden und dass sie ein Recht darauf haben, dass diese ernst genommen werden (Johansen, Thyness og Holm 2001). Leider wird der Sexualität alter Menschen überwiegend eine wenig positive Haltung entgegengebracht. Das Personal in Pflegeheimen kann diese negative Einstellung unversehens zementieren, so wie auch Kinder – unabhängig von ihrem eigenen Alter – oft nicht wahrhaben und akzeptieren wollen, dass ihre Eltern sexuelle Bedürfnisse haben und das ganze Leben lang diesbezüglich aktiv sind. Dies mag dazu führen, dass manche Ältere diese wenig förderlichen Haltungen auch selbst übernehmen und anderen gegenüber zum Ausdruck bringen, die diese Einschränkungen nicht hinnehmen mögen und vielleicht auch in höherem Alter noch Lust auf sexuelle Aktivität zeigen. So werden dann vielleicht zwei ältere Menschen, die sich einander annähern, den negativen Reaktionen ihrer gleichaltrigen Altersgenossen ausgesetzt (Kristensen 2007). Als Betreuerin muss man die Bedeutung der Sexualität für das allgemeine Wohlbefinden aller Menschen anerkennen, auf Gespräche darüber vorbereitet sein und sich darauf einlassen können. Wie bereits erwähnt, haben viele Menschen das Bedürfnis, sexuelle Themen anzusprechen – dies gilt selbstverständlich auch für den älteren Teil der Bevölkerung. In einer amerikanischen Studie waren 91 % der Patienten im Alter von über 65 Jahren darüber erleichtert, dass ihr Hausarzt bei einer Gesundheitsuntersuchung auf ihre Sexualität einging (Møhl 2017b).
Geistig Behinderte sind ebenfalls sexuelle Wesen, die das Bedürfnis haben, ihre Sexualität zu entwickeln und auszuleben. Menschen mit physischen und psychischen Funktionsstörungen stehen selbstverständlich in Bezug auf ihre Sexualität die gleichen grundlegenden Rechte wie allen anderen Menschen zu (Holmskov og Skov 2012)3. Haben behinderte Menschen sexuelle Probleme, sind sie weit mehr als andere von den Einstellungen und dem Verständnis ihrer Umgebung abhängig. Es gibt Behinderungen, die ein erfülltes Sexualleben erschweren können. Leider werden behinderte Menschen genau wie chronisch Kranke häufig auch von Therapeuten und Ärzten als asexuell wahrgenommen (Kristensen 2007). Dies hat zur Folge, dass das Thema Sexualität oft nicht angesprochen wird, weil der Behandler schlicht nicht daran denkt, dass der ihm gegenübersitzende Mensch selbstverständlich auch ein sexuelles Wesen ist. Dadurch wird diesem Teil der Bevölkerung der Zugang zu Informationen und Beratung zusätzlich erschwert. Gespräche über Sexualität sollten auch deshalb überall im Gesundheitswesen einen festen Platz einnehmen.
Es ist nicht ungewöhnlich, dass Männer Medikamente erhalten, die zu Erektionsproblemen führen, ohne dass über diese Nebenwirkung im Vorhinein informiert wird. Manchen Patienten wird geraten, sie sollten »die Dinge« nach einem Krankenhausaufenthalt »gelassen angehen«, und sie enthalten sich dann – vielleicht ohne jeden Grund – jeglicher sexueller Aktivitäten und nehmen möglicherweise ihr Sexualleben später gar nicht wieder auf. Dies alles nur, weil das Thema im ärztlichen Behandlungsgespräch nicht angesprochen wurde (Johansen, Thyness og Holm 2001).
Verschiedene Krankheiten können die Sexualität beeinträchtigen, wie zum Beispiel Diabetes, Sklerose, zu hoher Blutdruck, Schlaganfälle, Krebserkrankungen, Darmkrankheiten, Rückenmarksschäden, HIV und Aids (Kristensen 2007). Auch ein Herzinfarkt kann zu sexuellen Problemen führen, die typischerweise durch die als Begleiterscheinung auftretende Angst verursacht werden. Es ist bekannt, dass Klienten nach einem Herzinfarkt manchmal Angst davor haben, sexuell aktiv zu werden, obgleich es keine Belege dafür gibt, dass Sex in diesem Fall schädlich sein könnte. Dennoch zeigen ungefähr die Hälfte aller Menschen, die einen Herzinfarkt hinter sich haben, verminderte sexuelle Aktivität (ebd.). Sie – oder ihre Partner – haben eventuell Angst davor, dass die physische Anstrengung bei sexueller Betätigung zu einem weiteren Herzinfarkt führen könnte. Glücklicherweise ist diese Sorge übertrieben, weil zum Beispiel die mit einem Geschlechtsverkehr verbundene Anstrengung mit der vergleichbar ist, die man benötigt, um in ruhigem Tempo die Treppen bis zum dritten Stock hinaufzusteigen. Die Gefahr eines plötzlichen Todes durch einen Herzinfarkt ist nicht größer als bei gesunden Menschen (ebd.). Es gibt sogar Forschungsergebnisse, die darauf hindeuten, dass regelmäßige sexuelle Aktivität zu einer Minderung des Risikos für Herzprobleme beiträgt (Whipple, Knowles a. Davis 2007).
Angst kann also sowohl den Klienten als auch in hohem Maße den Partner beeinträchtigen. Letztere werden leider oft übersehen. In einer Studie über Herzinfarktpatienten machten sich ein Drittel aller Beziehungspartner bereits während der akuten Krankenhausaufnahme über das zukünftige Sexualleben Gedanken, und obgleich sämtliche Befragten sexuelle Sorgen bei der Entlassung aus dem Krankenhaus hatten, erhielten nur etwa 45 % in irgendeiner Form vorab Informationen zum Thema (Graugaard, Møhl og Hertoft 2006).
Bis zu 20 % aller Männer haben Erektionsprobleme nach einem Herzinfarkt. Dafür kann es eine physische Erklärung geben, wie zum Beispiel Durchblutungsstörungen aufgrund von Blutgefäßverkalkungen. Sie können jedoch auch von Angst verursacht und somit psychisch bedingt sein.
Obgleich die Verhältnisse bei Frauen weniger erforscht sind, treten bei ihnen oft Lustmangel und Orgasmusprobleme auf. Hinzu kommt, dass viele