Tante Lisbeth. Оноре де Бальзак. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Оноре де Бальзак
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783955014926
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will deinen Wechsel nur zu fünfzig Prozent annehmen. Außerdem verlangt er als Sicherheit eine Abtretung deines Gehaltes.«

      Das allgemeine Beamtenelend!

      »Was soll nun aus uns werden?« fragte Marneffe. »Der Hauswirt wird uns morgen kündigen. Zu dumm, dass dein Vater es fertiggebracht hat, ohne Testament zu sterben! Na ja, diese alten Leute aus der Kaiserzeit bilden sich alle miteinander ein, sie seien unsterblich wie ihr Kaiser.«

      »Mein armer Vater!« sagte Valerie. »Ich war sein einziges Kind. Er hing so an mir! Die Gräfin muss das Testament vernichtet haben! Wie hätte er mich vergessen können, wo er uns so manches Mal drei oder vier Tausendfrancsscheine auf einmal brachte!«

      »Frau, wir sind vier Raten der Miete schuldig; das macht fünfzehnhundert Francs. Ist unser Mobiliar so viel wert? Das ist die Frage! sagte schon Shakespeare.«

      »Auf Wiedersehen, Alter!« sagte Valerie, die nur ein paar Bissen von dem Fleisch gegessen hatte, aus dem die Köchin vorher eine gute Bouillon für einen tapferen Vaterlandsverteidiger, der eben aus Algier heimgekehrt war, gekocht hatte. »Hier kann nur noch ein Radikalmittel helfen!«

      »Wohin, Valerie?« rief Marneffe und vertrat seiner Frau den Weg zur Tür.

      »Ich will einmal mit unserem Wirt sprechen!« antwortete sie und ordnete ihre Locken unter dem hübschen Hut. »Und du solltest versuchen, dich mit der alten Jungfer da oben gut zu stellen, wenn sie wirklich eine nahe Verwandte deines Chefs ist.«

      Die Unwissenheit der einzelnen Mieter ein und desselben Hauses über sich und ihre gegenseitige gesellschaftliche Lage zeigt am deutlichsten, mit welch rasender Schnelligkeit sich das Pariser Leben abspielt. Zudem ist es leicht verständlich, dass ein Beamter, der jeden Tag frühzeitig in seine Kanzlei geht, mittags nur zum Essen heimkommt und abends wieder ausgeht, und ebenso, dass eine Frau, die den Vergnügungen von Paris nachläuft, nichts vom Dasein einer alten Jungfer wissen können, die im dritten Stock nach dem Hof hinaus wohnt, besonders wenn diese alte Jungfer eine Lebensweise führt wie Fräulein Fischer.

      Als erste im ganzen Hause und ohne mit irgendwem zu sprechen, pflegte Tante Lisbeth jeden Morgen auszugehen, um Milch, Brot und Kohlen einzuholen. Abends ging sie mit Sonnenuntergang zu Bett; nie empfing sie Briefe oder Besuche. Sie führte eine jener anonymen sich einspinnenden Existenzen, wie man sie in manchen Häusern findet, wo man beispielsweise erst nach Jahren zufällig erfährt, dass oben im vierten Stock ein alter Herr wohnt, der noch Voltaire, Pilâtre de Rozier, Beaujon, Marcel, Molé, Sophie Arnould, Franklin und Robespierre gekannt hat.

      Was Herr und Frau Marneffe eben über Lisbeth Fischer gesagt, hatten sie aus der Einsamkeit dieses Pariser Viertels erfahren und durch ihre aus Verzweiflung angeknüpften Beziehungen zu den Hausmannsleuten, auf deren Wohlwollen das Ehepaar allzusehr angewiesen war. Sie waren deshalb ängstlich bemüht, es sich zu erhalten.

      Der Stolz, die Schweigsamkeit und das zurückgezogene Wesen der alten Jungfer hatten bei den Pförtnersleuten einen gewissen übertriebenen Respekt zur Folge gehabt, andrerseits aber auch jenes Übelwollen, das ein untrügliches Zeichen für das – wenn auch uneingestandene – Missvergnügen des Tieferstehenden ist. Im übrigen hielten sie sich für ebensoviel wie eine Mieterin, die nur zweihundertundfünfzig Francs Miete zahlte.

      Die vertraulichen Mitteilungen, die Tante Lisbeth ihrer jungen Verwandten gemacht hatte, entsprachen der Wirklichkeit. Aber was die Pförtnersfrau dem Ehepaar Marneffe hinterbracht hatte, war, ohne dass sie es selber merkte, mehr regelrechte Verleumdung.

      Als die alte Jungfer ihren Leuchter aus den Händen dieser ehrbaren Frau Olivier empfangen hatte, schaute sie zu den Dachfenstern über ihrer Wohnung hinauf, um zu sehen, ob dort Licht sei. Um diese Zeit war es selbst im Juli nach dem Hofe hinaus schon so dunkel, dass man Licht nötig hatte.

      »Sie können ruhig sein. Herr Steinbock ist zu Hause; er ist gar nicht fort gewesen«, bemerkte die Hausmannsfrau spöttisch zu Fräulein Fischer.

      Sie erwiderte nichts. Darin war sie Bäuerin geblieben, dass sie sich ganz und gar nichts aus dem Gerede Gleichgültiger machte. Genauso wie der Bauer nur sein eigenes Dorf kennt, lag ihr nur an der Meinung des kleinen Kreises, in dem sie verkehrte. Festen Ganges stieg sie an ihrer eigenen Wohnung vorbei, zur Mansarde hinauf. Das hatte einen harmlosen Grund. Beim Nachtisch hatte sie sich Früchte und Konfekt für ihren Liebsten in ihr Arbeitskörbchen gesteckt. Das wollte sie ihm jetzt geben, just wie andere alten Jungfern ihrem Hunde einen Leckerbissen mitbringen.

      Sie fand den blassen blonden jungen Mann, den Helden von Hortenses Träumen, beim Schein einer kleinen Lampe, deren Leuchtkraft durch eine davorgehängte, mit Wasser gefüllte Glaskugel gesteigert wurde, eine sogenannte Schusterkugel. Er saß an einem Arbeitstisch, auf dem verschiedene Werkzeuge des Ziseleurs ausgebreitet waren: rotes Wachs, Bossierhölzer, Roharbeiten und Kupfermodelle. Er trug eine Arbeiterbluse und hielt ein kleines Wachsgruppenmodell in der Hand, das er mit der ganzen Aufmerksamkeit eines schaffenden Künstlers betrachtete.

      »Da, Stanislaus, sieh, was ich dir mitgebracht habe!« sagte Lisbeth und breitete ihr Taschentuch auf eine Ecke des Tisches. Dann holte sie aus ihrem geflochtenen Körbchen vorsichtig die Näschereien und Früchte heraus.

      »Wie gut du bist!« antwortete der arme Flüchtling mit trauriger Stimme.

      »Das wird dich erfrischen, armer Junge! Du bist ganz heiß bei deiner Arbeit geworden! Für solch grobe Schufterei bist du nicht geschaffen.«

      Stanislaus sah das alte Fräulein erstaunt an.

      »Aber so iss doch, statt mich anzustarren wie eine deiner Figuren, wenn sie dir gefällt!«

      Angesichts dieses rauen Rüffels legte sich des jungen Mannes Erstaunen. Nun erkannte er seinen alten Hausdrachen wieder. Anwandlungen von Zärtlichkeit wunderten ihn immer; die Grobheit war er gewöhnt. Obgleich Steinbock neunundzwanzig Jahre alt war, sah er, wie dies bei blonden Menschen häufig der Fall ist, um fünf bis sechs Jahre jünger aus. Wenn man seine unter dem Elend und den Plagen der Verbannung allerdings etwas welk gewordene Jugendfrische neben dem vertrockneten derben Gesicht Lisbeths sah, konnte man auf den Gedanken kommen, die Natur habe hier das Geschlecht verwechselt.

      Stanislaus verließ seine Arbeit, warf sich in einen alten Lehnsessel im Stil Louis XV., der mit gelbem Utrechter Samt bezogen war, und schien sich ausruhen zu wollen. Die alte Jungfer nahm eine Reineclaude und reichte sie ihrem Freunde mit gütiger Bewegung.

      »Danke!« sagte er und nahm sie.

      »Bist du müde?« fragte sie, indem sie ihm eine zweite Frucht reichte.

      »Nicht müde vom Schaffen, aber müde vom Leben«, antwortete er.

      »Was sind das für Gedanken!« meinte sie ärgerlich. »Hast du nicht eine gute Fee, die für dich sorgt?« Und damit reichte sie ihm die Süßigkeiten, die er zu ihrem Vergnügen alle aufaß.

      »Siehst du«, fuhr sie fort, »bei Tisch bei meiner Nichte habe ich deiner gedacht und ...«

      Er sah Lisbeth mit einem zärtlichen und zugleich betrübten Blicke an: »Ich weiß wohl, dass ich ohne dich schon längst nicht mehr lebte, aber, liebe Freundin, ein Künstler braucht Zerstreuung ...«

      »Aha, daher weht der Wind!« unterbrach sie ihn, indem sie die Hände in die Hüften stemmte und große Augen machte. »Du willst dir deine Gesundheit wohl gar im Sündenpfuhl von Paris ruinieren wie so viele andere, die dann im Spittel enden! Nein, nein, erarbeite dir erst ein Vermögen, und wenn du dermaleinst von deinen Zinsen leben kannst, dann amüsiere dich, mein Sohn! Denn dann kannst du die Sünde und auch die Doktorrechnungen bezahlen, du Leichtfuß du!«

      Stanislaus Steinbock senkte den Kopf unter ihren scharfen Blicken, die wie ein magnetischer Strom durch seinen Körper drangen.

      Selbst das ärgste Lästermaul hätte beim Anblick dieser Szene erkannt, wie falsch die Verleumdungen waren, die das Ehepaar Olivier gegen Lisbeth Fischer ausgesprochen hatte. Alles, Sprechweise, Bewegungen und Blicke der beiden bezeugten die Reinheit ihrer Beziehungen. Das alternde Mädchen äußerte die Zärtlichkeit einer zwar derben, aber aufrichtigen Mütterlichkeit, und der junge Mann ertrug