Die Vernunftehe
Barbara Cartland
Barbara Cartland E-Books Ltd.
Vorliegende Ausgabe ©2017
Copyright Cartland Promotions 1985
Gestaltung M-Y Books
1 ~ 1825.
Der Erzbischof von Axminster saß auf einem harten Stuhl mit hoher Rückenlehne und blickte durch die riesigen Fenster hinaus in den Park.
Der Garten um das Haus herum war zwar verwildert, jedoch von außerordentlicher Schönheit.
Der Rasen mit den vielen gelben Narzissen wirkte wie ein weicher Teppich unter den hohen Eichenbäumen.
Silbern funkelte die Sonne auf dem kleinen See, den die Zisterzienser angelegt hatten, als sie diese Abtei oberhalb des Flusses erbauten.
Der Bischof, ein gutaussehender Mann mit scharfen, klaren Gesichtszügen, dachte zurück an die Zeit im Mittelalter, als die Vernham Abtei, wo er sich zur Zeit befand, Macht ausübte zum Guten des ganzen Landes.
Als Henry VIII die Auflösung der Klöster durchgesetzt hatte, wurde Vernham Abbey dem Besitz von Sir Richard Verne hinzugefügt, der bereits beträchtliche Ländereien besaß.
Der Bischof, Hochwürden Lorimer Verne, konnte seine Vorfahren zurückverfolgen bis zu der Zeit, als die Vernes nicht nur eine wichtige Rolle am Hofe spielten, sondern auch für die Gerechtigkeit bekannt waren, mit der sie ihre Ländereien regierten.
Der Bischof stieß einen Seufzer aus und hörte im gleichen Augenblick ein Geräusch in der Halle. Erwartungsvoll wandte er sein Gesicht der Tür zu.
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Stimmen nahe vor der Tür zu hören waren. Und schon erschien in der Tür die Gestalt eines jungen Mannes.
„Alvaric!“
Der Bischof hatte eine tiefe Stimme. Jetzt erhob er sich von seinem Stuhl.
„Hallo, Onkel Lorimer“, rief der Neuankömmling aus. „Dachte ich mir doch, daß du hier zu finden bist. Es ist sehr lieb von dir, hier auf mich zu warten.“
„Es ist mir eine Freude, dich daheim willkommen zu heißen, Alvaric. Ich habe lange auf deine Rückkehr gewartet.“
Der jüngere Mann lachte und sein Lachen schien den ganzen Raum ein wenig aufzuhellen, der durch seine Holztäfelung und die kleinen Fenster immer ein wenig düster wirkte.
„Es hat über sechs Monate gedauert, bis dein Brief mich erreichte“, sagte er. „Er ist schließlich über zweihundert Meilen durch die Lande getragen worden, bis ich ihn erhielt.“
„Ich dachte mir schon, daß die Verzögerung deines Kommens damit zusammenhängt“, sagte der Bischof. „Komm’ her, mein Junge, ich möchte dich genau betrachten.“
Sein Neffe gehorchte und setzte sich auf einen anderen eichenen Stuhl, dessen Rückenlehne mit einem Monogramm und einem Wappen verziert war.
Der Bischof betrachtete seinen Neffen kritisch, schien jedoch mit dem, was er sah, sehr zufrieden zu sein.
Alvaric war zweiunddreißig Jahre alt. Er war nicht nur ein besonders gutaussehender Mann, was schon immer der Fall gewesen war, sondern er strahlte außergewöhnliche Stärke und Vitalität aus.
Er besaß eine vollkommene Figur, hatte nicht ein Gramm Fett zuviel, seine Augen strahlten und seine Haut war sonnengebräunt.
Der junge Mann schien zu warten, was sein Onkel ihm mitzuteilen hatte, und nach einer ganzen Weile begann der Bischof zu sprechen. Seine Stimme klang, als wolle er sich entschuldigen.
„Als es soweit war, daß du erben solltest, blieb mir nichts anderes übrig, als dich zu bitten, so schnell wie möglich zurückzukehren.“
„Nun, ich habe mein Bestes getan!“
„Das weiß ich. Aber es schien so lange zu dauern. Und jetzt, da du endlich hier bist, wünschte ich, daß ich bessere Nachrichten für dich hätte.“
Alvaric, der jetzt der 11. Baron war, zog seine dunklen Brauen in die Höhe.
Dann fragte er plötzlich, und es schien eher eine Frage der Höflichkeit als der Neugierde zu sein: „Wie ist mein Cousin gestorben?“
„Er starb zur gleichen Zeit wie dein Onkel. Beide kamen bei einem Unfall mit der Kutsche ums Leben.“
Lord Vernham erwiderte nichts. Er schien darauf zu warten, daß der Bischof mit seinem Bericht fortfuhr.
„Warum solltest du nicht die ganze Wahrheit erfahren. Dein Cousin Gervaise war betrunken, wie schon so unzählige Male davor und aus irgendeinem unerklärlichen Grunde entschieden dein Onkel und sein Sohn sich, spät in der Nacht hierher zu fahren.“
Nach einer kleinen Pause fuhr der Bischof fort: „Mein Bruder hat in all den Jahren so wenig Interesse an seinen Besitztümern gezeigt, daß ich mir nur vorstellen kann, daß er überprüfen wollte, ob nicht doch noch etwas übrig war, das er hätte verkaufen können.“
„Verkaufen?“
„Wie ich bereits sagte, Alvaric, ich wünschte, ich hätte bessere Nachrichten für dich. Aber ich bin der Meinung, es ist besser, du erfährst die Wahrheit von mir, ehe die Anwälte sie dir mitteilen.“
„Eigentlich hatte ich schon vor neun Jahren, als ich England verließ, den Eindruck, daß mein Onkel dazu neigte, alles zu verspielen, was er an beweglichem Vermögen besaß.“
„So ist es auch gewesen“, erwiderte der Bischof. „Und Gervaise hat nichts unternommen, um ihn daran zu hindern. Er hat im Gegenteil fast ebenso viel verschleudert wie sein Vater.“
„Er hat auch gespielt?“
„Nicht nur das. Auch die Frauen und der Wein waren sein Verhängnis. Bekanntlich kosten all diese Dinge viel Geld.“
„Du willst mir also damit zu verstehen geben, daß ich nichts weiter als die Güter geerbt habe, an die keiner herankommen konnte. Außerdem die Abtei, die so wie sie im Augenblick dasteht, bald zusammenbrechen wird, und ich befürchte, noch einen Berg Schulden dazu.“
„Ein ganzes Gebirge davon“, sagte der Bischof.
Lord Vernham erhob sich, ging auf eine der Fensternischen zu, um ein Fenster zu öffnen. Dabei bemerkte er, daß der Rahmen bereits angebrochen war.
Aus dem weit geöffneten Fenster betrachtete er, was von dem herrlichen Garten, den sein Großvater vor langen Jahren angelegt hatte, übriggeblieben war. Er konnte den See sehen, in dem er seinen ersten Fisch gefangen hatte. Dahinter befand sich der große Park, in dem er als Junge das Reiten gelernt hatte.
Vernham Abbey war voll von Erinnerungen für ihn. Wie oft hatte er sich nach der Schönheit dieser Landschaft gesehnt, während er auf dem Kontinent gelebt hatte.
Niemals hatte er auch nur einen Augenblick daran gedacht, daß er diesen Besitz erben würde.
Sein Onkel, der 10. Lord Vernham, hatte einen Sohn, der ständig im Begriff stand, sich zu verheiraten.
Als sein Vater drei Jahre nach dem Tod der Mutter in der Schlacht bei Waterloo getötet worden war, hatte er sich entschlossen, England zu verlassen, da weder Geld noch sonst irgendetwas ihn in der Heimat hielt.
Es gab niemanden, der seine Abreise bedauerte, mit Ausnahme seines Onkels Lorimer, zu dem er eine tiefe Zuneigung empfand. Mit der der Jugend eigenen Abenteuerlust war er aufgebrochen, und es hatte nichts gegeben, was seine Reiselust und seinen Tatendrang hätte einschränken können.
Es hatte ihn wie ein Donnerschlag getroffen, als er den Brief seines Onkels erhalten hatte, der von der langen Reise völlig verschmutzt und zerknittert war.
Er konnte es einfach nicht glauben, daß er nun durch den unerwarteten Tod zweier Menschen zum Oberhaupt einer großen Familie geworden war.
Sein