Am Morgen verließ Ingrid das Krankenhaus, um so schnell wie möglich heimzukommen. Sie nahm ein Bad und kleidete sich danach wieder an. Sie wählte einen Hausanzug, den sie bisher kaum getragen hatte, weil ihr ganz einfach die Gelegenheit dazu gefehlt hatte.
Immer wieder blickte sie auf die Uhr. Eigentlich müßte Guido schon da sein, dachte sie. Ob er es sich doch noch anders überlegt und den Frankfurter Besuch verschoben hatte?
Ingrid rief kurz entschlossen in Sophienlust an. Fassungslos hörte sie von Frau Rennert, daß ihr Mann gar nicht eingetroffen war. Kuni und Mathias seien enttäuscht zu Bett gegangen, nachdem man ihnen erlaubt hatte, länger als gewöhnlich aufzubleiben, damit sie ihren Vater noch begrüßen konnten.
»Aber das verstehe ich nicht«, stotterte Ingrid ratlos. »Ein Unglück kann nicht geschehen sein, denn das würden wir im Krankenhaus sofort erfahren. Frau Rennert, es tut mir leid, daß Sie sich solche Mühe umsonst gemacht haben. Für mich ist es ein Rätsel, daß mein Mann nicht in Sophienlust eingetroffen ist.«
»Machen Sie sich keine allzu großen Sorgen, Frau Laurens«, versuchte Frau Rennert die junge Frau zu beruhigen.
»Es wird sich gewiß alles aufklären«, entgegnete Ingrid und bestellte dann noch herzliche Grüße für ihre Kinder. »Ich komme so bald wie möglich, liebe Frau Rennert«, fügte sie geistesabwesend hinzu und legte auf.
Unruhig durchwanderte Ingrid danach die kleine Wohnung. Sie blickte immer wieder auf die Straße hinunter, in der Hoffnung, Guidos Wagen auftauchen zu sehen.
Als das Telefon läutete, zuckte sie wie unter einem Schlag zusammen. Bestimmt Guido, dachte sie und nahm ab.
Doch nun erlitt sie an diesem Morgen den zweiten Schock. Denn die Oberschwester forderte sie auf, umgehend ins Krankenhaus zu kommen. Als Ingrid nach dem Grund fragte, bekam sie zur Antwort, daß sie diesen noch früh genug erfahren würde.
Beklommenen Herzens eilte Ingrid zum Krankenhaus. Wie unfreundlich die Stimme der Oberschwester geklungen hatte! Sonst war sie immer die Freundlichkeit in Person. Irgend etwas Schwerwiegendes mußte vorgefallen sein, kombinierte Ingrid richtig und betrat mit gemischten Gefühlen die Klinik.
Der Stationsarzt, die Oberschwester und Schwester Maria erwarteten sie im Schwesternoffice. Aus den Gesichtern der drei war deutlich herauszulesen, daß etwas sehr Schlimmes passiert sein mußte. Kurz darauf erschien auch noch der Oberarzt.
»Schwester Ingrid, Sie hatten Nachtdienst?« fragte der Oberarzt ernst.
»Ja, Herr Oberarzt.« Verständnis-
los erwiderte sie seinen prüfenden Blick.
»Waren Sie am Giftschrank?«
»Nur ein einziges Mal«, beteuerte sie. »Ich habe eine Schlaftablette für den Patienten auf Zimmer zweiundzwanzig geholt. Er hatte mich darum gebeten, und da…«
»Und sonst?«
»Nein, sonst nichts.« Unsicher erwiderte sie seinen Blick. Vielleicht war ihm zu Ohren gekommen, daß sie den Schlüssel hatte steckenlassen? Aber eigentlich konnte das doch niemand wissen, sagte sie sich sogleich. Nachdem Guido gegangen war, hatte sie den Schlüssel an sich genommen. »Geht es denn dem Patienten, dem ich die Schlaftablette gebracht habe, nicht gut?« fragte sie erschrocken. »Es war doch nur eine harmlose Tablette, die…«
»Schwester Ingrid, das Morphium ist aus dem Giftschrank verschwunden.«
»Das Morphium! Aber… das ist doch unmöglich!« rief sie entsetzt. »Ich habe keines benötigt und…«
»Es ist fort. Beide Schachteln sind gestohlen worden. Aber vielleicht haben Sie sie woanders hingelegt«, mischte sich nun die Oberschwester ein.
»Nein, ganz bestimmt nicht«, verteidigte sich Ingrid. Dabei blitzte es empört in ihren Augen auf. Das sah ja ganz so aus, als wollte man sie des Morphiumdiebstahls beschuldigen.
»Auch fehlen die Eintragungen im Giftbuch«, erklärte der Stationsarzt. »Außerdem ist es unmöglich, so viele Ampullen in einer so kurzen Zeit zu verbrauchen.«
»Ich habe damit nichts zu tun!« rief Ingrid außer sich. »Das müssen Sie mir glauben!«
»Aber der Verdacht fällt leider nur auf Sie, Schwester Ingrid«, entgegnete der Oberarzt ernst. »Die Oberschwester, der Stationsarzt und auch die beiden Krankenschwestern können beweisen, daß das Morphium noch im Schrank war, als Sie Ihren Nachtdienst antraten. Nicht wahr, Sie hatten Besuch?«
»Ja, mein Mann war für einige Minuten bei mir. Er war auf der Durchreise.«
»Und Sie haben ihn keinen Augenblick bis zu seinem Fortgang allein gelassen?«
»Keinen Augenblick«, beteuerte sie. »Er war ja auch nur ein paar Minuten hier.« Es wurde ihr nicht einmal bewußt, daß sie nicht ganz bei der Wahrheit blieb.
»Schwester Ingrid, so leid es uns tut, Sie sind vorübergehend beurlaubt. So lange, bis der Fall geklärt ist«, teilte der Oberarzt ihr kurz mit.
»Aber…« Ingrid war so weiß wie die Wand geworden.
»Sie müssen das verstehen. Für den Diebstahl sind allein Sie verantwortlich. Wir müssen den Fall der Polizei übergeben.«
Ingrid blickte fassungslos in das sonst so gütige Gesicht des Arztes und suchte darin verzweifelt nach Verständnis. Doch er zuckte nur die Achseln und verließ das Schwesternzimmer.
Wie in Trance packte Ingrid ihre Sachen und verließ fast fluchtartig das Krankenhaus. Wie ein waidwundes Tier verkroch sie sich danach in ihrer Wohnung. Am nächsten Tag erhielt sie einen Brief der Krankenhausleitung mit ihrer fristlosen Entlassung.
Selbst als Guido aus München anrief und ihr mitteilte, er habe noch am gleichen Abend mit seinem Klienten in Frankfurt gesprochen und sei auf der Stelle zu ihm gefahren, konnte sie das nicht trösten. Auch wagte sie es nicht, ihm etwas von dem entsetzlichen Verdacht, der auf sie gefallen war, zu erzählen.
In ihrer Verzweiflung nahm sie den nächsten Zug nach Bachenau. Diesmal hatte sie sogleich eine Busverbindung nach Wildmoos, wo sie ausstieg.
Auf dem Weg nach Sophienlust begegnete ihr Denises Auto. Erstaunt hielt Denise von Schoenecker an. Sofort sah sie, daß die junge Frau sich in seelischer Not befand. Hilfsbereit, wie sie war, verschob sie ihre Fahrt nach Maibach auf einen anderen Tag und bat Ingrid einzusteigen. Dann fuhr sie mit ihr nach Schoeneich zurück.
Ingrid war der gütigen Dame unendlich dankbar dafür. Denn sie hätte sich ihren Kindern gegenüber im Moment nicht zusammennehmen können.
Wie ein Häufchen Unglück saß sie dann Denise in deren hübschem Schreibzimmer gegenüber. Nach einem Schluck Kognak fühlte sie sich etwas besser und erzählte, was ihr widerfahren war. »Sie müssen mir glauben, Frau von Schoenecker, ich habe das Gift nicht genommen«, beteuerte sie schluchzend.
»Ich glaube es Ihnen, Frau Laurens. Aber Sie müssen auch die Leute im Krankenhaus verstehen. Ich bin
ganz sicher, daß sich alles aufklären wird.«
»Aber wie? Ich hatte den Schlüssel zum Giftschrank. Ich habe ihn steckenlassen. Aber nur für ein paar Minuten. In dieser Zeit kann nichts geschehen sein. Außerdem war mein Mann für einige Minuten bei mir und…«
»Er wollte doch nach Sophienlust kommen«, unterbrach Denise sie. »Frau Rennert sagte mir das heute vormittag.«
»Er mußte dringend nach Frankfurt, Frau von Schoenecker. Irgendwer muß in der Zeit, als ich mich mit meinem Mann unterhielt, in der Apotheke gewesen sein. Aber wer?«
In Denise stieg ein Verdacht hoch, doch sie hütete sich, etwas davon zu erwähnen. Dafür nahm sie sich vor, später mit ihrem Mann darüber zu sprechen. Denn Alexander besaß eine ausgezeichnete Kombinationsgabe, so daß sie ihn manchmal damit neckte, er hätte Detektiv