»Das Abendbrot wird um neun Uhr fertig sein,« sagte Miß Meadowcroft und sprach das Wort »Abendbrot« in einem Tone aus, als ob es ein häusliches Attentat wäre, das von den Männern verübt und von den Frauen nur geduldet würde. Ich folgte dem Hausknecht nach meinem Zimmer, nicht allzu entzückt von meinen ersten Erfahrungen auf der Farm.
Keine Naomi und somit keine Romantik!
Mein Zimmer war sauber – beängstigend sauber. Ich hätte etwas dafür gegeben, irgendwo ein Stäubchen zu entdecken. Meine Bibliothek beschränkte sich auf die Bibel und das Gebetbuch. Die Aussicht aus meinem Fenster zeigte mir eine gleichmäßige, zum Teil kultivierte Ebene, welche sich in dem Dämmerlicht des Abends in der Ferne melancholisch verlor. Über meinem schneeweißen.Bett hing ein verdammender Bibelspruch in rot und schwarz gemalten Buchstaben. Miß Meadowcroft hatte den Stempel ihrer trübseligen Gegenwart diesem Zimmer aufgedrückt. Mir sank das Herz, als ich mich darin umblickte. Meine ganze Hoffnung war auf das Abendbrot gerichtet. Ich zündete die Kerzen an und nahm aus meinem Koffer, wie ich bestimmt glaube, den ersten französischen Roman, der jemals in Morwick Farm ans Licht gekommen. Es war eine der meisterhaften, reizenden Geschichten von Dumas, dem älteren. In fünf Minuten befand ich mich in einer andern Welt und mein melancholisches Zimmer war von der lebhaftesten französischen Gesellschaft erfüllt. Der scharfe, gebieterische Ton einer Glocke rief mich zu rechter Zeit in die Wirklichkeit zurück. Ich sah nach meiner Uhr. Punkt neun Uhr!«
Ambrosius empfing mich unten an der Treppe und führte mich nach dem Speisezimmer.
Mr. Meadowcrofts Krankenstuhl war an das obere Ende des Tisches gerollt. Rechts von ihm saß die traurige, schweigende Gestalt seiner Tochter. Sie winkte mir mit geisterhaft feierlicher Gebärde, den leeren Platz zur Linken ihres Vaters einzunehmen. In diesem Augenblick trat Silas Meadowcroft ins Zimmer und wurde mir durch seinen Bruder vorgestellt. Es war eine große Familienähnlichkeit zwischen Beiden, nur daß Ambrosius größer und hübscher war. In keinem der Gesichter prägte sich jedoch ein besonderer Charakter aus, und ich hielt Beide für noch unentwickelte Menschen, deren gute wie böse Eigenschaften erst durch Zeit und Umstände zu ihrer vollen Reife gelangen würden.
Während ich noch die Physiognomien der beiden Brüder studierte, ohne, wie ich ehrlich gestehe, von einer oder der andern sympathisch berührt zu werden, öffnete sich die Tür abermals, und ein neues Mitglied des Familienkreises, welches meine Aufmerksamkeit fesselte, trat in das Zimmer.
Es war ein kleiner, hagerer Mann, der für einen auf dem Lande und in der freien Luft Lebenden merkwürdig bleich war. Auch in anderer Hinsicht noch war sein Gesicht ein auffallendes. Den unteren Teil desselben bedeckte ein dichter, schwarzer Bart, zu einer Zeit, wo Bärte in Amerika zur Ausnahme gehörten. Was den oberen Teil betraf, so funkelten ein Paar wilder brauner Augen darin, deren Ausdruck mich unwillkürlich auf den Gedanken brachte, daß in dem geistigen Gleichgewicht des Mannes eine Störung vorhanden sein müßte, und daß er, obgleich in seinem Reden und tun vollkommen vernünftig, unter besonders provozierenden Umständen fähig wäre, die gewaltsamsten und tollsten Handlungen zu begehen. Kurz, der Eindruck, den er bei seinem Erscheinen im Speisezimmer sofort auf mich machte, war der, daß er, wie die volkstümliche Phrase lautet, »ein wenig verrückt« sei.
Mr. Meadowcroft, der Vater, der bis jetzt kein Wort gesprochen hatte, stellte mir selbst den neu Eingetretenen mit einem Seitenblick auf seine Söhne vor, in welchem etwas wie eine Herausforderung lag, und welcher, wie ich zu meinem Leidwesen bemerkte, mit gleichem Trotz von Seiten der beiden jungen Leute erwidert wurde.
»Philipp Lefrank, dies ist mein Oberaufseher, Mr. Jago,« sagte der alte Mann, uns in aller Form einander vorstellend. »John Jago, dies ist mein junger Anverwandten Mr. Lefrank. Er ist nicht gesund, und übers Meer gekommen, um sich in einer andern Umgebung auszuruhen. Mr. Jago ist Amerikaner, Philipp. Ich hoffe, Du hast kein Vorurteil gegen Amerikaner. Mache mit Mr. Jago Bekanntschaft und setzt Euch zusammen.« Abermals warf er seinen Söhnen einen hässlichen Blick zu, und die Söhne erwiderten ihn wie vorhin. Sie wichen mit Ostentation vor John Jago zurück, als er sich dem leeren Stuhl neben mir näherte und gingen nach der andern Seite des Tisches herum. Es war klar, daß der bärtige Mann beim Vater in hoher Gunst stand, währender aus diesem oder jenem Grunde von den Söhnen herzlich gehasst wurde.
Noch einmal öffnete sich die Tür und eine junge Dame schloß sich ruhig dem um die Abendtafel versammelten Kreise an. War die junge Dame Naomi Colebrook? Ich blickte Ambrosius fragend an und las die Antwort auf seinem Gesicht. Naomi Colebrook war endlich erschienen.
Sie war ein reizendes Mädchen und soviel ich nach dem äußeren Anschein urteilen konnte, auch ein gutes Mädchen. Sollte ich eine allgemeine Beschreibung von ihr geben, so würde ich sagen, sie hatte einen schmalen Kopf, der ihr reizend auf dem Halse saß und graziös von ihr getragen wurde; klare graue Augen. Die Einen ehrlich anschauten und durchaus das meinten, was sie ausdrückten; eine zierliche, schlanke kleine Gestalt – zu schlank für unsere englischen Begriffe von Schönheit; einen stark amerikanischen Akzent und, was in Amerika eine Seltenheit ist, ein angenehm klingendes Organ, welches das englische Ohr mit jenem Akzent aussöhnte. Der erste Eindruck, den wir von Personen empfangen, ist unter zehn Malen neun Mal der richtige. Ich hatte Naomi auf den ersten Blick gern. Ihr freundliches Lächeln, ihr herzlicher Händedruck, als wir einander vorgestellt wurden, alles gefiel mir an ihr. »Wenn ich hier im Hause auch sonst mit Niemandem Freundschaft schließe,« dachte ich bei mir selbst, »mit Dir werde ich es gewiss.«
Und einmal in meinem Leben habe ich mich als richtiger Prophet erwiesen, denn in der Atmosphäre heimlicher Feindschaft, welche über Morwick Farm lagerte, sind die hübsche Amerikanerin und ich von Anfang bis zu Ende treue Freunde geblieben.
Ambrosius machte zwischen sich und seinem Bruder für Naomi Platz. Sie errötete leicht und sah ihn einen Augenblick mit einer allerliebsten widerstrebenden Zärtlichkeit an, indem sie ihren Stuhl einnahm. Ich hatte den jungen Farmer stark im Verdacht, daß er ihr heimlich unter dem Tische die Hand drückte.
Das Mahl war kein heiteres. Die einzige fröhliche Unterhaltung war die, welche Naomi und ich über den Tisch hinüber führten.
John Jago schien sich aus irgend einem unbegreiflichen Grunde in der Gegenwart seiner jungen Landsmännin unbehaglich zu fühlen. Er sah öfters verstohlen zu ihr hinüber und dann wieder mit einem Stirnrunzeln auf seinen Teller. Wenn ich ihn anredete, antwortete er mir zerstreut. Selbst wenn er mit Mr. Meadowcroft sprach, schienen seine Gedanken mehr bei den jungen Leuten drüben als bei dem Gespräche zu sein, wenigstens wanderten seine Blicke unaufhörlich zu ihnen hinüber. Als wir zu essen begannen, bemerkte ich, daß Silas Meadowcrofts linke Hand mit Heftpflaster bedeckt war, und jetzt sah ich auch, daß John Jagos unstete braune Augen, nachdem sie alle rings um den Tisch flüchtig gestreift hatten, mit einem eigentümlich zynisch forschenden Blick auf der verletzten Hand des jungen Mannes haften blieben.
Um meinen ersten Abend auf der Farm vollends unbehaglich zu machen, bemerkte ich sehr bald, daß der Vater und die Söhne indirekt zu einander sprachen, indem sie Mr. Jago und mich als Medium benutzten. Tadelte Mr. Meadowcroft ein in der Ackerwirtschaft vorgekommenes Versehen gegen seinen Inspektor, so zeigte doch die Richtung seiner Blicke an, daß der Verweis direkt auf seine Söhne gemünzt war. Benutzten die beiden Söhne eine gelegentliche Bemerkung über Viehzucht von meiner Seite, um ironische Glossen über schlecht gehaltene Schafe und Rinder zumachen, so sahen sie John Jago an, während ihre Worte an mich gerichtet waren. Bei solchen Gelegenheiten, die häufig wiederkehrten, mischte sich Naomi resolut im rechten Moment ins Gespräch und gab ihm eine ungefährliche Wendung. Jedes Mal, wenn sie in dieser Weise für die Aufrechterhaltung des Friedens eintrat, beugte die melancholische Tochter des Hauses sich langsam vor und sah