Tagebuch eines Überflüssigen
Der Arzt hat mich soeben verlassen. Nun bin ich aber endlich im Klaren! Wie er sich auch bemühte, es fortzuklügeln, er mußte es zuletzt doch aussprechen. Ja, ich werde bald, sehr bald sterben. Das Eis der Flüsse wird brechen, und mit dem letzten Schnee werde ich wegschwimmen – wohin? Gott weiß es! Auch ins Meer . . . Nun, was macht’s. Wenn einmal sterben, so doch am liebsten im Frühling sterben. Ist es aber nicht lächerlich, sein Tagebuch vielleicht zwei Wochen vor dem Tode zu beginnen? Uebrigens, es bleibt sich ja gleich! Und warum sollten vierzehn Tage weniger ausmachen, als vierzehn Jahre, vierzehn Jahrhunderte? Vor der Ewigkeit ist Alles Narretei, pflegt man zu sagen – ja! aber in diesem Falle wäre auch die Ewigkeit selbst – Narretei. – Doch, ich verfalle, wie es scheint, in Spekulationen: das ist ein schlechtes Zeichen. Wird mir etwa bange? – Lieber erzähle ich etwas. Draußen ist es feucht, windig – aus zugehen ist mir verboten. Was aber erzählen? Ein gesitteter Mensch spricht nicht von seinem physischen Leiden; eine Novelle oder sonst Etwas zu dichten, ist nicht meine Sache; Abhandlungen über erhabene Gegenstände zu schreiben, ist nicht für meine Kräfte; Beschreibungen aus dem mich umgebenden Leben – das könnte selbst mich nicht amüsiren. Nichts zu thun, ist aber langweilig. Zum Lesen – bin ich zu faul. Ei was! Es ist am besten, ich erzähle mir selbst meine Lebensgeschichte. Vor dem Tode ist das wohl erlaubt und am Ende auch Keinem zum Nachtheil. Ich beginne also.
Geboren wurde ich vor etwa dreißig Jahren in einer ziemlich wohlhabenden gutsherrlichen Familie. Mein Vater war ein leidenschaftlicher Spieler, meine Mutter eine Dame von Charakter – überhaupt eine sehr tugendhafte Frau. Aber ich konnte an keiner Frau eine Tugendhaftigkeit nachweisen, die noch weniger Freudigkeit gedeihen ließe, als die meiner Mutter. Sie ertrug kaum die Last ihrer Tugenden und quälte Alle, sich selbst am meisten. Während der fünfzig Jahre ihres Lebens hat sie sich kein einziges Mal überwunden, die Hände in den Schoß zu legen; sie war immer in Bewegung und wirthschaftete wie eine Ameise – aber ohne jeden Nutzen, was man von einer Ameise nicht grade sagen kann. Ein unruhiger Wurm nagte Tag und Nacht in ihr. Nur ein einziges Mal habe ich sie vollkommen ruhig gesehen: am ersten Tage nach ihrem Tode – im Sarge. Als ich sie betrachtete, schien es mir wahrlich, als ob ihr Gesicht eine schweigende Verwunderung ausdrücke. Es schien, als sprachen von den halbgeöffneten Lippen, den eingesunkenen Wangen und aus den sanften, unbeweglichen Augen die Worte: »Wie schön ist es, sich nicht zu rühren! Ja, schön – es ist schön, sich endlich frei zu machen von dem drückenden Bewußtsein des Lebens, von dem aufdringlichen und unruhigen Gefühle des Daseins! – Ader darum handelt es sich hier nicht.
Ich wuchs kümmerlich und ohne Heiterkeit heran. Der Vater und die Mutter liebten mich beide ; aber dadurch ist mir das Leben nicht leichter gewesen. Der Vater, als ein Mann, der sich offen einer schändlichen und ruinirenden Leidenschaft ergab, hatte in seinem Hause nicht die mindeste Macht. Er war sich seiner Gesunkenheit bewußt, und da er keine Kraft besaß, von dem geliebten Laster abzustehen, so suchte er wenigstens durch zustimmende Demuth und durch eine freundliche und bescheidene Miene die Nachsicht seiner musterhaften Gattin zu verdienen. Meine Mutter ertrug in Wirklichkeit ihr Unglück mit der kalten, würdevollen Langmuth, in der sich so viel Stolz und Egoismus verbirgt. Sie warf meinem Vater nie etwas vor; schweigend pflegte sie ihm ihr letztes Geld zu geben und seine Schulden zu bezahlen. Er lobte und pries sie in ihrer Gegenwart, wie in ihrer Abwesenheit; doch liebte er nicht zu Hause zu sein und küßte mich nur verstohlener Weise, als ob er sich fürchtete, mich mit seiner Gegenwart zu verpesten. Seine einstellten Züge athmeten alsdann eine solche Güte, das fieberhafte Zucken seiner Lippen verwandelte sich in ein so rührendes Lächeln, seine braunen von feinen Runzeln umgebenen Augen leuchteten in einer solchen Liebe, daß ich unwillkürlich meine Wange an die seine schmiegte, welche feucht und warm war von Thränen. Ich wischte ihm mit meinem Tuche die Thränen ab, und sie flossen von Neuem, ohne Anstrengung, wie Wasser aus einem übervollen Glase. Ich pflegte selbe in Weinen auszubrechen, und er tröstete mich, streichelte mich mit seiner Hand über den Rücken und küßte mir mit seinen zuckenden Lippen das ganze Gesicht. Wenn ich an meinen Vater denke, so schnüren mir sogar jetzt noch, mehr als zwanzig Jahre nach seinem Ableben, die ungeweinten Thränen die Gurgel zusammen, und das Herz schlägt, schlägt so heiß und bitter und quält sich in einem so beklemmenden Mitleiden, als ob ihm noch lange beschieden wäre zu schlagen, und als ob ihm wirklich noch ein Gegenstand zum Bedauern vorhanden wäre.
Meine Mutter im Gegentheil behandelte mich immer gleich freundlich, alles gleich – kalt. In den Kinderbüchern kommen oft solche Mütter vor, moralisirende und gerechte. Sie liebte mich, ich aber liebte sie nicht. Ja, ich scheute mich vor meiner tugendhaften Mutter und liebte leidenschaftlich meinen lasterhaften Vater.
Für den heutigen Tag ist es jedoch genug. der Anfang ist da, und um das Ende, wie es auch ausfallen möge, habe ich mich nicht zu bekümmern. Das hängt von meiner Krankheit ab.
Heute ist ein merkwürdiges Wetter. Warm, klar. Die Sonne spielt lebhaft auf dem schmelzenden Schnee. Alles glänzt, dampft, tröpfelt. Die Sperlinge schreien wie Verrückte um die dunkeln Zäune umher. Die feuchte Luft reizt süß und unwiderstehlich meine Brust. Der Frühling – der Frühling kommt! Ich sitze am Fenster und schaue über das Feld hinaus. O Natur, Natur! Ich habe dich so lieb, und doch ging ich aus deinem Schoße hervor, untauglich für das Leben. Da hüpft ein Sperling mit ausgebreiteten Flügeln; er schreit, und jeder Ton seiner Stimme, und jedes zerzauste Federchen an seinem kleinen Körper athmet Gesundheit und Kraft.
Was folgt aus Alledem? – Nichts. Er ist gesund und hat das Recht zu schreien und rauflustig zu sein. Und ich – ich bin krank und muß sterben – das ist Alles. Mehr hiervon zu sprechen verlohnt sich nicht. Das weinerliche Appelliren an die Natur erscheint lächerlich bis in’s Komische – kehren wir zur Erzählung zurück.
Ich wuchs, wie schon gesagt, sehr kümmerlich und trübe heran. Geschwister besaß ich nicht. Erzogen wurde ich zu Hause. Was hätte denn sonst meine Mutter zu thun gehabt, wenn man mich in eine Pension oder eine Kroneanstalt abgegeben hätte? Dazu sind ja eben die Kinder da, daß die Eltern sich nicht langweilen – Wir lebten größtentheils im Dorfe; manchmal gingen wir nach Moskau. Ich hatte Hofmeister und Lehrer, wie es die Sitte erforderte. Besonders blieb mir ein kränklicher und sentimentaler Deutscher, Nickmann, in Erinnerung, ein überaus trauriger und vom Schicksale getroffener Mensch, der in einer vergeblichen, drückenden Sehnsucht nach seiner fernen Heimath brannte. Gewöhnlich am Ofen, inmitten der drückenden Schwüle des engen Vorzimmers, welches durch und durch vom saueren Geruch des gegorenen Kwaß1 getränkt war, da sitzt mein unrasirter, verwachsener Diener Wassily, mit dem Zunamen: die Muttergans, in seinem unverwüstlichen Halbrock aus grobem Gewebe – er sitzt und spielt Karten mit dem Kutscher Potap, der seinen neuen schaumweißen Schafpelz und seine unzerstörbaren Schmierstiefel zum ersten Male anhat – und Nickmann singt hinter dem Verschlage:
Herz, mein Herz, warum so traurig?
Was bekümmert dich so sehr?
’s ist ja schön im fremden Lande —
Herz, mein Herz, was willst du mehr? . . .
Nach dem Ableben meines Vaters siedelten wir ganz nach Moskau über. Ich zählte damals zwölf Jahre. Mein Vater starb des Nachts an einem Schlaganfall. Ich werde diese Nacht nicht vergessen. Ich schlief fest, wie Kinder gewöhnlich schlafen; aber ich erinnere mich, daß es mir sogar im Schlafe schien, als vernehme ich ein schweres und gleichmäßiges Schnarchen. Plötzlich spüre ich, daß mich Jemand an die Schulter faßt und rüttelt. Ich öffne die Augen: vor mir steht mein Diener. »Was ist los?« – »Kommen Sie nur, kommen Sie! Alexej Michajlowitsch liegt im Sterben.« Wie ein Wahnsinniger springe ich aus dem Bett – nach seinem Schlafzimmer – ich sehe . . . der Vater liegt da mit zurückgeworfenem Haupte, das Gesicht blutroth und athmet mit der größten Anstrengung. In die Thür drängen sich Leute mit erschrockenen Gesichtern. Im Vorzimmer fragt eine heisere Stimme: »Hat man nach dem Arzt geschickt?« Im Hofe wird das Pferd aus dem Stalle gezogen; das Thor knarrt – ein Talglicht brennt im Zimmer am Boden. Die Mutter, die auch anwesend ist, ergiebt sich dem Schmerze, ohne jedoch dabei den Anstand und das Bewußtsein ihrer Würde zu verlieren. Ich warf mich dem Vater an die Brust, umarmte ihn und stammelte: »Papa! Papa!« . . . Er lag unbeweglich und blinzelte eigenthümlich. Ich sah ihm in’s Gesicht – ein unerträgliches Grauen preßte meinen Athem zusammen.