Mit dem ersten seiner Worte war das bewegte Gespräch der Zweitausend-Personen-Gesellschaft verstummt. In vollkommener Stille, in devoter Regungslosigkeit lauschte man der langen, pathetischen und platten Glückwunschrede, die der Intendant, Senator und Staatsrat für seinen Ministerpräsidenten hielt. Alle Augen waren auf Hendrik Höfgen gerichtet. Alle bewunderten ihn. Er gehörte zur Macht. Seine Stimme brachte, anlässlich des dreiundvierzigsten Geburtstages seines Herrn, die überraschendsten Jubeltöne hervor. Er hielt das Kinn hochgereckt, die Augen schimmerten, seine sparsamen und kühnen Gesten hatten den schönsten Schwung. Er vermied es aufs sorgsamste, ein wahres Wort zu sagen. Der skalpierte Cäsar, der Reklamechef und die Kuhäugige schienen darüber zu wachen, dass nur Lügen, nichts als Lügen von seinen Lippen kämen: Eine geheime Verabredung verlangte es so, in diesem Saale wie im ganzen Land.
Während er sich dem Ende seiner Ansprache mit bravourös gesteigertem Tempo näherte, flüsterte eine hübsche, kindlich aussehende kleine Dame – die Gattin eines bekannten Filmregisseurs —, die im Hintergrund des Raumes ein bescheidenes Plätzchen hatte, tonlos ihrer Nachbarin zu: „Wenn er fertig ist, muss ich hingehen und ihm die Hand schütteln. Ist es nicht fantastisch? Ich kenne ihn doch noch von früher – ja, wir sind in Hamburg zusammen engagiert gewesen. Das waren ulkige Zeiten! Und was hat der Mensch seitdem für eine Karriere gemacht!!“
I
H. K
In den letzten Jahren des Weltkrieges und in den ersten Jahren nach der Novemberrevolution[14] hatte das literarische Theater in Deutschland eine große Konjunktur. Um diese Zeit erging es auch dem Direktor Oskar H. Kroge glänzend, den schwierigen Wirtschaftsverhältnissen zum Trotz. Er leitete eine Kammerspielbühne in Frankfurt am Main. In dem engen, stimmungsvoll intimen Kellerraum traf sich die intellektuelle Gesellschaft der Stadt und vor allem eine angeregte, von den Ereignissen aufgewühlte, diskussions- und beifallsfreudige Jugend, wenn es die Neuinszenierung eines Stückes von Wedekind[15] oder Strindberg[16] gab oder eine Uraufführung von Georg Kaiser[17], Sternheim[18], Fritz von Unruh[19], Hasenclever[20] oder Toller[21]. Oskar H. Kroge, der selbst Essays und hymnische ‘Gedichte’ schrieb, empfand das Theater als die moralische Anstalt: von der Schaubühne sollte eine neue Generation erzogen werden zu den Idealen, von denen man damals glaubte, dass die Stunde ihrer Erfüllung gekommen sei – zu den Idealen der Freiheit, der Gerechtigkeit, des Friedens. Oskar H. Kroge war pathetisch, zuversichtlich und naiv. Am Sonntagvormittag, vor der Aufführung eines Stückes von Tolstoi oder von Rabindranath Tagore[22], hielt er eine Ansprache an seine Gemeinde. Das Wort „Menschheit“ kam häufig vor; den jungen Leuten, die sich im Stehparkett drängten, rief er mit bewegter Stimme zu: „Habet den Mut zu euch selbst, meine Brüder!“ – und er erntete Beifallsstürme, da er mit den Schillerworten schloss: „Seid umschlungen, Millionen!“
Oskar H. Kroge war sehr beliebt und angesehen in Frankfurt am Main und überall dort im Lande, wo man an den kühnen Experimenten eines geistigen Theaters Anteil nahm. Sein ausdrucksvolles Gesicht mit der hohen, zerfurchten Stirn, der schütteren, grauen Haarmähne und den gutmütigen, gescheiten Augen hinter der Brille mit schmalen Goldrand war häufig zu sehen in den kleinen Revuen der Avantgarde; zuweilen sogar in den großen Illustrierten. Oskar H. Kroge gehörte zu den aktivsten und erfolgreichsten Vorkämpfern des dramatischen Expressionismus.
Es war ohne Frage ein Fehler von ihm gewesen – nur zu bald sollte es ihm klarwerden – sein stimmungsvolles kleines Haus in Frankfurt aufzugeben. Das Hamburger Künstlertheater, dessen Direktion man ihm im Jahre 1923 anbot, war freilich größer. Deshalb akzeptierte er. Das Hamburger Publikum aber erwies sich als längst nicht so zugänglich dem leidenschaftlichen und anspruchsvollen Experiment wie jener zugleich routinierte und enthusiastische Kreis, der den Frankfurter Kammerspielen treu gewesen war. Im Hamburger Künstlertheater musste Kroge, außer den Dingen, die ihm am Herzen lagen, immer noch den „Raub der Sabinerinnen“[23] und „Pension Schöller“[24] zeigen. Darunter litt er. Jeden Freitag, wenn der Spielplan für die kommende Woche festgesetzt wurde, gab es einen kleinen Kampf mit Herrn Schmilz, dem geschäftlichen Leiter des Hauses. Schmilz wollte die Possen und Reißer angesetzt haben, weil sie Zugstücke waren; Kroge aber bestand auf dem literarischen Repertoire. Meistens musste Schmilz, der übrigens eine herzliche Freundschaft und Bewunderung für Kroge hatte, nachgeben. Das Künstlertheater blieb literarisch – was seinen Einnahmen schädlich war.
Kroge klagte über die Indifferenz der Hamburger Jugend im besonderen und über die Ungeistigkeit einer Öffentlichkeit im allgemeinen, und Paul von Schönthan, in der es um ein Theaterstück geht, das Gymnasialprofessor Gollwitz als Student geschrieben hat – eine Jugendsünde, wie er es nennt. die sich allem Höheren entfremdet habe. „Wie schnell es gegangen ist!“ stellte er mit Bitterkeit fest. „Im Jahre 1919 lief man noch zu Strindberg und Wedekind; 1926 will man nur mehr Operetten.“ Oskar H. Kroge war anspruchsvoll und übrigens ohne prophetischen Geist. Hätte er sich beschwert über das Jahr 1926, wenn er sich hätte vorstellen können, wie das Jahr 1936 aussehen würde? – „Nichts Besseres zieht mehr“, grollte er noch. „Sogar bei den Webern[25] gestern ist das Haus halb leer gewesen.“
„Immerhin kommen wir doch zur Not noch auf unsere Rechnung.“ Direktor Schmilz bemühte sich, den Freund zu trösten: „Aber wie!“ Kroge wollte sich durchaus nicht trösten lassen. „Aber wie kommen wir denn auf unsere Rechnung! Berühmte Gäste aus Berlin müssen wir uns einladen – so wie heute abend —, damit die Hamburger ins Theater gehen.“
Hedda von Herzfeld – Kroges alle Mitarbeiterin und Freundin, die schon in Frankfurt Dramaturgin und Schauspielerin bei ihm gewesen war – bemerkte: „Du siehst wieder mal alles schwarz in schwarz, Oskar H.! Es ist ja schließlich keine Schande, Dora Martin gastieren zu lassen – sie ist wundervoll —, und übrigens kommen unsere Hamburger auch, wenn Höfgen spielt.“ Während sie Höfgens Namen aussprach, lächelte Frau von Herzfeld klug und zärtlich. Über ihr großes, matt gepudertes Gesicht mit der fleischigen Nase, den großen, goldbraunen, wehmütig intelligenten Augen ging ein bescheidenes Aufleuchten.
Kroge sagte brummig: „Höfgen wird überzahlt.“
„Die Martin übrigens auch“, fügte Schmilz hinzu. „Ihren ganzen Zauber in Ehren und zugegeben, dass sie ungeheuer zieht: aber tausend Mark Abendgage, das ist doch wohl ein bisschen toll.“
„Berliner Staransprüche“, machte Hedda spöttisch. Sie hatte in Berlin nie zu tun gehabt und behauptele, den Betrieb der Hauptstadt zu verachten.
„Tausend Mark im Monat für Höfgen ist auch übertrieben“, behauptete Kroge, plötzlich gereizt. „Seit wann hat er denn eigentlich tausend?“ fragte er herausfordernd Schmilz. „Es sind doch immer nur achthundert gewesen, und das war reichlich genug.“
„Was soll ich machen?“