Paul Keller
Das letzte Märchen
Ein Märchenroman
An die Verwunderten
Jawohl, ich bin ein Bürger dieser Stadt! Ich arbeite und schiebe Kegel, ich zahle Steuern und räsoniere auf den Magistrat, ich bin amtlich bestallter Armenpfleger und agitiere mit den Mietern gegen die Hausbesitzer, ich würde sogar im Konsumverein sein, wenn das mein Schwager, der ein Kaufmann ist, erlaubte.
Ihr seht, die wichtigsten Merkmale treffen bei mir zu: ich bin wirklich ein Bürger dieser Stadt. Kein Wichtiger, kein Reicher, keiner von den vielen Sehrklugen, im ganzen einer der armen Schlucker, die ihre Pflicht tun müssen, die am Tage immer etwas zu klagen und zu schimpfen haben, aber die doch am Abend zu lachen anfangen.
Es ist schön in unserer Stadt, o ja! Ich glaube, wir haben das beste Straßenpflaster von allen Städten Preußens, und wir fabrizieren ein Bier, das sogar exportiert wird, wir haben einen Professor hier, über den man schon einmal im ganzen Lande geschimpft hat, und besitzen eine alte Glocke, über die ein leibhaftiger Dichter aus der Literaturgeschichte ein langes Gedicht gemacht hat. Ich könnte noch vieles anführen, aber es ist ohnehin bekannt, daß ich ein Lokalpatriot bin. Ich habe einmal, als ich acht Wochen lang verreist war, jeden Abend von sechs bis sieben Uhr Heimweh gehabt nach unserer Stadt. –
Ihr, meine Freunde, wißt, daß ich viele Geschichten erzählt habe. Sie alle spielten in unserem Leben; sie hatten alle den festen Boden unserer Straße unter sich, Fleisch von unserem Fleisch, Seele von unserer Seele. Schicksal von unserem Schicksal wollte ich geben.
Und nun bin ich in diesem Buch ein anderer, bin fort von Euch, fort aus unserer Stadt, fort aus unserem Leben.
Geflohen ... geflohen!
Ich will Euch ein großes Geheimnis anvertrauen, meine Freunde, eines, das Ihr mir heilig halten sollt.
Meine Seele kann sich wandeln: sie kann zur Kinderseele werden, zur Kinderseele, die jung und keusch ist, unwissend und fröhlich. Ihr kennt die Kinderseele nicht, Ihr kennt nur die andere ... die alte. Die Kinderseele habe ich nur, wenn ich fort bin auf weiter Reise, in unendlich fernen Ländern, nach denen kein hölzerner Wegzeiger weist.
wißt Ihr, was ich manchmal im Frühling gern tun möchte? Einen Backofen im Sande bauen, oder ein kleines Grab graben auf der Wiese, oder einen Zweipfennig auf die Eisenbahnschienen legen und am Damme mit klopfendem Herzen lauern, wie ihn der Zug breitfährt. Merkt Ihr, daß ich das niemandem sagen kann? Sie würden lachen, und meine arme, kleine Seele würde sich totschämen und dann gar nicht mehr wiederkommen.
Sie kommt schon so selten, vor der Arbeit und der Schuld, vor der Liebe und dem Verrat, vor dem wirbelnden Leben und dem bleichen Tode, vor dem vielen Gelächter und vielen Geschrei im Lande ist sie scheu geworden.
Aber sie lebt noch. Manchmal, wenn ich im Sturmwind wandere, fürchte ich mich auch jetzt noch, umzublicken, weil ich glaube, daß ein prustender Riese hinter mir schreitet; manchmal sehe ich jetzt noch am Himmel weiße Berge mit leuchtenden Almen und einsamen Fußpfaden; manchmal, wenn ich auf dem grünen Rasen liege, weiß ich wieder, daß da unten die Welt ist, in der die reichen Zwerge wohnen.
Und es geschah zuweilen, wenn ich am Schreibtisch saß, daß mir ein Kinderlachen aus der eigenen Seele hineinschallte in den ernsten Text. Dann freute ich mich, aber ich fürchtete mich auch, fürchtete mich vor denen, die es mir nicht verzeihen würden, wenn ich so jung wäre. Und dann habe ich oft Jugend und unbesorgte Fröhlichkeit aus meiner Stube hinausgesperrt.
Jetzt ist mir die Furcht vergangen. An diesem Buche darf der Mann schreiben und das Kind.
Das letzte Märchen! Mein letzter Gang in die süße, heilige Herrlichkeit jener Wunderländer, nach denen sonst nur die reichsten Menschen dieser Erde reisen können – die Kinder, – eine Flucht zurück zur Harmlosigkeit, Zur Gesundheit, zu einer Freude, auf die keine Qual folgt.
In dieses Buch will ich alles retten, was in mir noch jung, nein, was in mir noch Kind ist.
Wollt Ihr mich begleiten? Ihr meint, Ihr seid alt. Ich bin auch alt. Auch in diesem letzten Märchen wird mir die Kinderseele aus meinen alten Augen schauen, die Menschen studierten, Bücher lasen, die viel lachten und viel weinten. Meine Augen kann ich nicht mehr ändern.
Kommet mit! Nicht alle! Nur die, die in ihres Lebens heimlichsten Stunden in der Brust das alte Kinderherz noch manchmal ein paar Schläge tun fühlen, die manchmal eine Sehnsucht haben, in die Heimat zu gehen und alte Spielplätze wieder aufzusuchen, die nicht zu stolz und auch nicht zu arm sind, eine unbesorgte Märchenfahrt zu wagen, die in reifen Tagen unsere ersten Wunderländer im gewandelten Lichte noch einmal wiedersehen wollen.
Viel losgerissene goldene Fäden verflattern nutzlos in der Menschenseele. Sie wollen wir sammeln. Im letzten Märchen liegt der ersten Märchen Erfüllung. Sie wollen wir suchen.
Ein Krähenritt durch die Luft hat viel Sonderbares an sich. Ich kann sagen, daß ich weich und warm saß und keinerlei Erschütterungen verspürte, auch recht schnell fortkam. Nur der Gedanke, ich könne jeden Augenblick! einige hundert Meter tief hinunterfallen, hatte viel Unangenehmes an sich. Auch entsteht durch die rasche Bewegung und den beständigen Flügelschlag der Krähe ein ziemlich heftiger Luftzug, so daß ich Personen, die leicht zu katarrhatischen Anfällen neigen, einen Krähenritt nicht empfehlen kann.
Mein Begleiter und ich sprachen wenig miteinander; auch die Krähen verhielten sich ziemlich schweigsam. Diese Tiere haben überhaupt, wie ich später erfuhr, nur einen sehr geringen Wortschatz. Was über die gewöhnlichen Phrasen, Essen, Trinken und Eierlegen betreffend, hinausgeht, sind fast nur Schimpfworte. Aber es gibt Menschen, bei denen es ähnlich ist.
Ein paar Sterne leuchteten, der Mond machte seine Reise durch die weißen Schneewolken. Er sah so weiß aus, als ob er fröre. Der Trubel der großen Stadt verklang hinter uns, die hellen Lichter erloschen, wir kamen übers freie Feld. Das lag in einem blauweißen, frostigen Licht. Auf den verschneiten, öden Wiesen bei den vermummten Weiden standen ein paar zitternde Rehe. Die Wälder stöhnten leise vor Frost, und auf den Bergen lastete eine eisige Kälte.
Da fing auch mich an zu frieren, denn ich war ohne Überzieher. Herr von Stimpekrex bedauerte sehr, nicht wenigstens eine Reisedecke mitgenommen zu haben.
Ich fühlte an meine Nase und stach mich daran wie an einer Nadel. So hart, spitz und klein war sie. Es mußte furchtbar sein, in eine so kleine Nase einen großen Schnupfen zu bekommen.
»Wenn wir wenigstens einen Schluck Kognak bei uns hätten!« seufzte ich.
Mein Begleiter sah mich vorwurfsvoll an, und der fatale Paragraph 17 fiel mir ein.
Und so ging es weiter durch die kalte Silvesternacht, immer unter den weißen Schneewolken hin, aus denen von Zeit zu Zeit vereinzelte Flocken wie tanzende, aufgewirbelte Papierfetzen über unseren Weg huschten.
Wenn man sehr friert, ist es gut, zu pfeifen, da macht man wenigstens den Gesichtsmuskeln Bewegung. Und die Musik macht auch etwas Courage.
Also pfiff ich. Es war eine freie Phantasie von Wagnerschem Kolorit. Allmählich aber ging die Phantasie in die Weise eines Liedes über: »Hier sind wir versammelt zu löblichem Tun, drum Brüderchen –«
»Wissen Sie was,« unterbrach mich Herr von Stimpekrex, »wir werden mal Station machen, um uns ein wenig zu wärmen. Es ist hier in der Nähe ein Eichhörnchennest, eine recht nette Herberge. Der Wirt schläft freilich um diese Zeit; aber wir werden ihn herausklopfen.«
Das merkwürdige Tintenfaß
Das Merkwürdige an meinem neuen Tintenfaß war, daß es die Form eines Fasses hatte. Sonst sehen Tintenfässer immer aus wie Salznäpfe, Eierschalen, Eulen, Flaschen, Schweine oder Totenköpfe. Mein Tintenfaß aber sah aus wie ein Faß, hatte eine richtige Auswölbung, zwei Reifen und einen allerliebsten Spund.
Ich hatte dieses originelle Tintenfaß sehr lieb und zeigte es mit einem gewissen Stolze jedem Besucher. Es kam allerdings auch vor, daß es mir Kummer bereitete, ja, es wurde mir zur beständigen