WALDRÖSCHEN X. ERKÄMPFTES GLÜCK. TEIL 3
1. Kapitel
Einige Zeit nach den Ereignissen bei Vater Pirnero saß der alte, brave Haziendero Pedro Arbellez in einer Stube am Fenster und blickte hinaus in die Ebene, auf der seine Herden wieder ruhig weiden konnten, da die kriegerische Bewegung sich nach Süden gezogen hatte.
Arbellez sah wohl aus. Er hatte sich vollständig wieder erholt; doch lag auf seinem Gesicht ein schwermütiger Ernst, der ein Widerschein der Stimmung seiner Tochter war, die sich unglücklich fühlte, weil sie den Geliebten verloren hatte.
Da sah Arbellez eine Anzahl Reiter von Norden her sich nähern. Voran ritten zwei Männer und eine Dame, und hinter diesen folgten etwa ein Dutzend Packpferde, die von drei Männern getrieben wurden.
»Wer mag das sein?« meinte Arbellez zu der alten Marie Hermoyes, die sich bei ihm befand.
»Wir werden es ja sehen«, meinte diese, nun auch hinaus nach der Ebene blickend. »Diese Leute kommen gerade auf die Hazienda zu und werden also wohl hier einkehren.«
Die Reiter, in solche Nähe gekommen, spornten ihre Tiere zu größerer Eile an und ritten bald durch das Tor in den Hof. Man denke sich das Erstaunen des Haziendero, als er Pirnero erkannte, und die Freude Emmas, als sie Resedilla und den Schwarzen Gerard erblickte, den sie ja von dem Fort Guadeloupe her kannte.
Es gab auf der Hazienda eine Aufregung, die sich nur langsam wieder legte, und ein Erzählen und Berichten, das kein Ende nehmen wollte.
Nur einer blieb sich gleich, ohne sich aufregen zu lassen, der Schwarze Gerard nämlich. Kaum war er dem Haziendero vorgestellt worden, so litt es ihn nicht länger in dem Zimmer; er ging hinaus ins Freie. Vor der Tür trat ihm der Doktor Berthold entgegen, der sich mit Doktor Willmann nebst Pepi und Zilli noch auf der Hazienda befand.
»Ah, welche Überraschung!« rief der Arzt »Monsieur Mason. Sie sind also gesund und wohl?« – »Gott sei Dank, ja«, antwortete der Gefragte. »Ich bin mit Pirnero und Resedilla soeben erst hier angekommen.« – »Die beiden sind da?« fragte der Arzt erstaunt. – »Ja.« – »In welcher Angelegenheit?« – »Hm! Ich will es eine Besuchsreise nennen. Pirnero ist ja mit Arbellez verwandt. Da oben gibt es nun eine Menge Szenen, eine Aufregung, ein Fragen und Horchen, daß ich förmlich geflohen bin. Aber, Monsieur, von unseren Bekannten ist ja kein Mensch zu sehen!« – »Wen meinen Sie?« – »Sternau.« – »Ah, der ist verschwunden.« – »Verschwunden? Was soll das heißen? Er ist verreist?« – »Nein. Er ist verschwunden, es muß ihm ein Unfall begegnet sein; das will ich mit diesem Wort sagen. – »So will ich hoffen, daß Sie sich irren.« – »Leider irre ich mich nicht. Sternau ist fort, und die anderen mit ihm, ohne daß wir wissen, wo sie sich befinden.« – »Die anderen? Wen meinen Sie?«
Der Arzt zählte ihm die Namen her.
»Tod und Teufel!« rief Gerard. »Das klingt ja grausig. Kommen Sie, kommen Sie, Monsieur! Wir gehen in den Garten, wo Sie mir alles erzählen werden.«
Der Arzt tat Gerard den Willen und berichtete, was geschehen war, von der Ankunft Donnerpfeils bis zum rätselhaften Verschwinden des alten Grafen.
Gerard hatte zugehört, ohne ein Wort dazu zu sagen. Als der Arzt aber geendet hatte, fragte er:
»Hat man nicht nach dem Grafen geforscht?« – »Natürlich hat man dies getan.« – »Mit welchem Erfolg?« – »Ohne jeden Erfolg.« – »Unmöglich! Hat man keine Spuren entdeckt?« – »Keine!« – »Aber man muß doch irgend etwas gesehen haben – die Tapsen von Menschen und Pferden.« – »Ach! Wer gibt darauf acht!« – »Aber der Graf kann doch nicht zum Fenster hinausgestiegen sein.« – »Man fand sein Fenster verschlossen!« – »Aber die Tür geöffnet?« – »Ja, wie ich glaube.« – »Sonderbar. War denn nicht ein guter Jäger in der Nähe, der die Umgebung hätte absuchen können?« – »Nein. Übrigens war die allgemeine Bestürzung außerordentlich. Jeder war auf das heftigste erschrocken und tat, was er nach seiner Weise für richtig hielt.« – »Hatten sich am Tag vorher nicht verdächtige Leute blicken lassen?« – »Nein.« – »War kein Besuch auf der Hazienda?« – »O doch!« – »Wer war es?« – »Der Sohn des Alkalden, der von Señor Mariano an den Grafen geschickt wurde.« – »Ah, da scheint es licht zu werden.« – »O nein, es wird vielmehr noch dunkler.« – »Wieso?« – »Dieser Bote ist uns auch ein Rätsel gewesen.« – »Das glaube ich«, meinte der Schwarze Gerard in fast mitleidigem Ton. »Was sollte er beim Grafen?« – »Señor Mariano schickte ihn, um sagen zu lassen, daß Josefa gefangen sei und man Pablo Cortejo auch baldigst festnehmen werde.« – »Wer war der Mann?« – »Er sagte, daß er der Sohn des Richters aus Sombrereto sei.« – »Und Ihr habt das geglaubt?« – »Natürlich. Er legitimierte sich ja mit dem Ring von Señor Mariano, den er mitbrachte.« – »Und den er wieder mitnahm?« – »Nein. Don Ferdinando hat ihn behalten. Der Ring ist Hunderttausende wert. Ihr seht also, daß der Mann ehrlich war.« – »Wann ging er wieder fort?« – »Am anderen Morgen.« – »Wer war bei ihm?« – »Kein Mensch. Ich habe ihn fortreiten sehen, es war am hellen Tag.« – »Hm!« brummte der Jäger nachdenklich. »Erlauben Sie! Verzeihen Sie! Das ist eine Sache, die sich keine Sekunde aufschieben läßt.«
Gerard drehte sich rasch um und eilte nach dem Haus zurück.
Dort weilten alle im Empfangszimmer. Pirnero und Resedilla hatten erwartet, Sternau und dessen Freunde auf der Hazienda zu sehen oder wenigstens gute Nachricht über sie zu erhalten. Es war leicht erklärlich, daß beide nach ihnen fragten, und so kam es, daß auch hier im Empfangszimmer dasselbe Thema verhandelt wurde, wie unten im Garten zwischen dem Arzt und Gerard.
Der alte Haziendero hatte eben von dem rätselhaften Verschwinden des Grafen erzählt, und alle hatten seinem Bericht gelauscht, als Gerard eintrat. Er hörte noch die Worte Pedros, der mit der Bemerkung schloß, daß der leibhaftige Teufel hierbei seine Hände im Spiel gehabt haben müsse.
Einige der Hörer schlossen sich diesem Urteil an, keiner aber kam auf den Gedanken, der allein der richtige war. Pirnero meinte sogar zu dem Haziendero:
»Also ihr habt noch nicht entdeckt, wohin der Graf verschwunden ist?« – »Nein. Es wird wohl auch niemand entdecken.« – »Oh, da dürftest du dich irren.« – »Wieso?« – »Weißt du, was ein Diplomat ist?« – »Ja.« – »Und ein Politiker?« – »Ja.« – »Nun also! Vor einem Diplomaten und Politiker bleibt nichts verborgen. Auch diese Sache wird bald an den Tag kommen.« – »Du meinst durch einen Politiker?« fragte Arbellez. – »Ja«, antwortete Pirnero in stolzem Ton. – »Wer sollte das sein?« – »Hm! Ahnst du das nicht?« – »Nicht im geringsten.« – »So bist du eben nicht das, was man einen Diplomaten nennt. Als Juarez bei uns in Fort Guadeloupe war, habe ich ihm höchst wichtige Ratschläge erteilt, er hat sie befolgt und gewinnt nun Schlacht auf Schlacht und Sieg auf Sieg.«
Arbellez machte ein sehr erstauntes Gesicht und sagte:
»Ah, meinst du etwa, aß du selbst…«
Er vollendete den Satz nicht, weil er die Gaben und Eigentümlichkeiten seines Schwagers sehr gut kannte.
»Was denn? So rede doch weiter! Daß ich selbst …« – »Daß du selbst ein Politiker seiest?« – »Ja, dieses meine ich. Oder glaubst du das nicht?« – »Hm! Es müßte bewiesen werden.« – »Oho! Während der Anwesenheit Juarez‘ war ich nahe daran, Gouverneur einer der nördlichsten Provinzen zu werden.« – »Oho!« wiederholte Arbellez denselben Ausruf. – »Ja. Und ich bin auf dem Weg, mexikanischer Oberst zu werden.« – »Was du sagst!« – »Ja. Ich habe euch erzählt, daß ich alles verkauft habe. Ich bin frei und mein eigener Herr. Wir drei, ich, Resedilla und ihr Verlobter, werden große Vergnügungsreisen machen und uns dann in einer Residenz niederlassen, London, Paris oder Pirna. Das kann ich nur im Charakter eines bedeutenden Mannes tun, und darum will ich Oberst werden. Bin ich nicht ein Politiker?« – »Allerdings, nämlich, wenn wirklich alles so ist, wie du sagst.« – »Natürlich.« – »Und so meinst du also, daß du auch unser gegenwärtiges Rätsel lösen wirst?« – »Das versteht sich von selbst. Wer dem Präsidenten Ratschläge erteilt und nun Oberst werden will, dem wird es doch wohl gelingen, den Grafen Rodriganda aufzufinden.« – »Aber wie willst du das anfangen?« – »Da ich es eben erst erfahren habe, so hatte ich noch keine Zeit, es mir zu überlegen, werde aber schleunigst darüber nachdenken, lieber Schwager.«
Da fiel Gerard ein:
»Das ist nicht nur unnötig, sondern sogar schädlich.« – »Wieso?« –