Frederic Steinfeld / Thomas Steinfeld
Ikea. 100 Seiten
Reclam
Für mehr Informationen zur 100-Seiten-Reihe:
2019 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung nach einem Konzept von zero-media.net
Infografiken: annodare GmbH, Agentur für Marketing
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2019
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961504-2
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020529-7
»Schau mal, das hatten wir auch!« – Ein Museum im Wald
Seit dem Sommer 2016 gibt es in Älmhult, einer Kleinstadt in Südschweden, eine Art Museum der angewandten Kunst. Zugleich ist die Einrichtung ein Firmenmuseum. Zu diesem Zweck baute der Möbelkonzern Ikea sein erstes Warenhaus um: Hier hatte der Versandhandel Ikea im Jahr 1958 damit begonnen, auf ein zusätzliches Ladengeschäft zu setzen. Im Eingang, gleich gegenüber den Türen, hängt das mehr als zwei Meter hohe Porträt eines älteren Herrn: Ingvar Kamprad war der Gründer und vermutlich bis ins hohe Alter der eigentliche Leiter des Unternehmens. Auf dem Bild blickt er den Betrachter aufmerksam an, wirkt dabei aber von Grund auf freundlich. Das Porträt erscheint in seinen Konturen seltsam unklar, wie verschwommen oder unscharf aufgenommen. Man muss nah herantreten, um den Grund zu erkennen: Es ist aus lauter Punkten zusammengesetzt, und jeder Punkt besteht aus einer weiteren Porträtfotografie, die wiederum jeweils einen von fast zweihunderttausend Ikea-Beschäftigten zeigt, so dass sich das Bildnis Ingvar Kamprads als Mosaik aus den Bildnissen anderer Menschen entpuppt. Ikea, so lautet die Botschaft dieses Bildes, ist zwar Ingvar Kamprad. Aber dieser milde Mann und sein Werk sind als eine aus Arbeitern und Angestellten gebildete Gesamtleistung zu verstehen, die sich dem als Slogan neben dem Porträt formulierten, angeblichen Firmenzweck unterordnet: »Einen besseren Alltag für die vielen Menschen zu schaffen.«
Ein Besucher fotografiert das überdimensionale, aus vielen kleinen Bildern der Angestellten zusammengesetzte Porträt Ingvar Kamprads im IKEA Museum, Älmhult
Die Kleinstadt Älmhult liegt mitten in den Wäldern der Provinz Småland. Malmö im Süden, die nächste größere Stadt, ist 150 Kilometer entfernt. Nach Stockholm, in die Hauptstadt im Norden, ist man mindestens vier Stunden unterwegs. In der Nachbarschaft, jeweils etwa dreißig oder vierzig Kilometer entfernt, liegen ähnliche Kleinstädte, Värnamo zum Beispiel oder Hässleholm, dazwischen Wälder, Seen, Wasserläufe, ein paar Felder und Wiesen. Außer Fichten, Moos und Blaubeeren wächst hier wenig, weshalb das pittoreske rote Holzhaus am dunklen See eher ein Ausdruck vergangener Not ist als ein Idyll. Und doch ist in Älmhult ein großes Unternehmen zu Hause, ein Weltkonzern sogar, eine Firma mit einem Marktwert, der, den Schätzungen des Wirtschaftsmagazins Forbes zufolge, irgendwo in der Nähe der Summen liegt, die für Nike, Volkswagen oder UPS gezahlt werden müssten. Keine dieser Firmen führt, zumindest nach außen, ein so entschlossen provinzielles Dasein wie Ikea.
Ingvar Kamprad war in dieser Gegend aufgewachsen, in Elmtaryd, einem Weiler, der zur Gemeinde Agunnaryd gehört. Diese erstreckt sich, etwa dreißig Kilometer nördlich von Älmhult gelegen, über eine Fläche, die ungefähr so groß ist wie das Stadtgebiet von Augsburg oder Halle. Aber es leben dort nur gut sechshundert Menschen. Als Fünfjähriger hatte er begonnen, mit Streichhölzern zu handeln, als Zehnjähriger hatte er das Sortiment auf selbstgefangene Fische, Kugelschreiber und Lametta ausgeweitet, als Siebzehnjähriger hatte er das Versandhaus gegründet, das sich einige Jahre später auf Möbel konzentrierte und zu Ikea wurde – wobei sich in diesem Unternehmen die Industrie spiegelte, die in dieser Region naturgemäß beheimatet war, nämlich die Herstellung von Stühlen, Tischen und Schränken. Und hier, in Älmhult, entstand 1958 das erste Warenhaus unter jenem Namen, den längst die ganze Welt kennt: ein moderner, rechteckiger Funktionsbau, dessen stilistische Extravaganz lediglich in einer aufsteigenden Arkade besteht, die von V-förmigen Betonpfeilern getragen wird. Vor ein paar Jahren wurde das alte Haus zu klein, ein neues wurde gebaut. Es ist jener ursprüngliche Bau, der nun als Museum dient.
Das IKEA Museum in Älmhult
Die großen Automobilhersteller betreiben private Museen. Die Firma Adidas stellt in Herzogenaurach ihre Geschichte aus. Der Möbelhersteller Vitra, der die teuersten Designer der Welt beschäftigt, unterhält in Weil am Rhein ein mindestens ebenso teures Museum. Das Museale an Ikea hingegen sah bis vor kurzem ähnlich bescheiden aus wie Ingvar Kamprads Arbeitszimmer in seinem Haus am Genfer See, wohin er im Jahr 1976 gezogen war, weil ihm in Schweden die Steuern zu hoch wurden: Es enthielt lauter gewöhnliche Dinge, die auf die übliche Weise alt geworden waren. Dieses kleine Arbeitszimmer steht nun selber im Museum, mit den mehrmals wiederbenutzten Ordnern, dem Durcheinander aus Familienfotos, Wörterbüchern und Porzellantigern, den Serienmöbeln aus der eigenen Produktion sowie den gelben Merkzetteln, die an der Schreibtischleuchte kleben.
Mit dem Umzug nach Älmhult verwandelte sich das Arbeitszimmer: Es ist jetzt ein Exponat. Es existiert nicht mehr als solches, sondern es symbolisiert die Einfachheit und die Sparsamkeit seines Benutzers. Die schlichte, überklebte Zigarrenkiste, in der Ingvar Kamprad die beim Fischverkauf verdienten Öre verwahrte, wird, von einem Scheinwerfer erleuchtet und in eine Vitrine gestellt, zum ebenso bedeutsamen wie kostbaren Requisit eines außerordentlichen Menschen, dem das Erwerben und Vermehren von Geld zur Natur wurde – und das in einer Selbstverständlichkeit, wie manche Menschen eine gleichsam natürliche Fähigkeit besitzen, Pilze zu finden oder Klavier zu spielen.
Überhaupt ist dieses Museum kein Museum im wissenschaftlichen Sinn. Es besitzt keine systematisch angelegte Sammlung, es betreibt keine Forschung, es gibt vermutlich nicht einmal einen sorgfältig geführten Katalog der Exponate. Stattdessen dient es einer Geschichte, die teleologisch angelegt ist: zum Zweck der Darstellung von Herkunft und Entfaltung einer globalen Marke.
An einem Regentag im Juli ist kaum ein freier Parkplatz mehr zu finden, und auf den drei Etagen mischen sich schwedische, deutsche, dänische und britische Besucher. In der Freude des Wiedererkennens sind sie vereint: »Schau mal, das hatten wir auch!« Erzählt wird hier ein doppelter Bildungsroman, der Roman eines Kaufhauses und seiner beliebtesten Produkte sowie der Roman des dafür verantwortlichen Menschen. Die Nennung der kleinen und mittleren Skandale, die es in der Geschichte dieses Unternehmens gab, scheint dabei die Spannung zu erhöhen. Die Sympathien des jungen Ingvar Kamprad für den Nationalsozialismus, die Beschäftigung von Zwangsarbeitern in der DDR, die Verwendung von Formaldehyd bei der Herstellung von Bücherregalen des Typs Billy: Diese Ereignisse erscheinen, gleichrangig, als verzeihliche Irrtümer auf dem Weg zu einem in jeder Hinsicht idealen, sozial, ökologisch und politisch verantwortlichen Unternehmen – in einem ähnlichen Sinn, wie das mit dunkelbraunem Leder bezogene, neobarock geformte Ikea-Sofa aus den siebziger Jahren heute als eher amüsante Geschmacksverirrung gilt.
So stehen sie nun in einer langen Reihe hintereinander, die von Ikea in sechzig Jahren geschaffenen Wohnräume, ein jedes Zimmer ein Reflex auf seine Zeit, ein Reflex auf eine spezifisch schwedische Vorstellung vom Wohnen: Räume, die in den dreißiger und vierziger Jahren als Verkörperung eines sozialdemokratisch gesunden Lebens gelten konnten. Und jedes Zimmer, jedes Möbelstück ist ein Dokument der Produktionstechnik, mit der Ikea das Schreinerhandwerk der Region in die Serienfertigung übertrug. Ikea konkurrierte stets über