Stephanie Lavorano
Rassismus. 100 Seiten
Reclam
Für mehr Informationen zur 100-Seiten-Reihe:
2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: zero-media.net
Coverabbildung: FinePic®
Infografiken: Infographics Group GmbH
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2019
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961427-4
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020534-1
Vorwort
Als ich im Frühjahr 2016 die Universität Berkeley in Kalifornien besuchte und mein Forschungsprojekt zu gegenwärtigen Formen des Rassismus in Deutschland vorstellte, sagte mir ein Kollege: »Das, was gegenwärtig in Deutschland passiert, sollte man nicht Rassismus nennen.« Er wollte darauf hinaus, dass der Begriff »Rassismus« zu groß, zu gesättigt von der deutschen nationalsozialistischen Geschichte sei, um zu aktuellen Formen der Diskriminierungen zu passen. Würde man heutige Ablehnungen und Ausgrenzungen, Hassrede (hate speech) oder soziale Benachteiligung, von der Menschen in Deutschland betroffen sind, Rassismus nennen, dann komme das einer Verharmlosung des Nationalsozialismus gleich. Mein Kollege fand, die gegenwärtige Lebensrealität von People of Color – die Gesamtheit der Menschen, die rassistischer Diskriminierung ausgesetzt sind – in Deutschland sei schließlich nicht mit den Verbrechen der Nationalsozialisten vergleichbar. Das ist sicherlich richtig. Dennoch wird man der gegenwärtigen Lage genauso wenig gerecht, wenn man den Begriff Rassismus vermeidet. Eines ist jedenfalls sicher: Über Rassismus in Deutschland zu sprechen ist nicht leicht.
Und dabei kommt in Deutschland vieles zusammen. Ein Sprechen über Rassismus ist also zwingend notwendig: Die jüngere Geschichte des Landes ist geprägt vom radikalsten Rassismus und Antisemitismus, nämlich der Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945). Aber auch die kurze deutsche Kolonialgeschichte umfasst beispiellose Gewaltakte, insbesondere den Völkermord an den Herero und Nama im heutigen Namibia (1904–1908). Gegenwärtig erleben wir einen ungekannten Aufschwung von Rechtsaußen-Parteien nicht nur in Deutschland, sondern in diversen europäischen Ländern, Menschen lassen ihr Leben auf dem Mittelmeer, während europäische Regierungen ihre Rettung verhindern, Neonazis skandieren 2018 faschistische Parolen offen auf deutschen Straßen und Thilo Sarrazin hat mit seinem jüngsten Buch erneut die Bestsellerlisten erobert. Daneben existieren aber auch weniger offensichtliche Formen der Ausschließung und Ablehnung im Alltag, welche die #MeTwo-Debatte in den sozialen Medien offengelegt hat. Den Überblick zu bewahren und das Thema Rassismus einzugrenzen, fällt angesichts der Vielzahl an Phänomenen schwer.
In Deutschland war der Begriff »Rassismus« im Gegensatz zum angloamerikanischen Sprachraum – umso überraschter war ich vom Einwand meines Kollegen – bis in die 2000er Jahre hinein reserviert für rechtsradikale Gewalt und Ideologien, die sich ausdrücklich auf die biologische Vermessung des Menschen beziehen. Diese krassen Ausprägungen des Rassismus haben im Jahr 2018 auf Demonstrationen eine neue und bedrohliche Sichtbarkeit erlangt. Doch es gibt auch viele andere Formen der Diskriminierung. Schließlich lehnen die allermeisten Menschen solche radikalen Rassismen zwar ab, postulieren aber die Unvereinbarkeit von Kulturen, sprechen bestimmten Gruppen die ›Integrationsfähigkeit‹ ab oder äußern ihre Ressentiments in scheinbar beiläufigen Mikroaggressionen.
Dennoch spricht vieles dafür, trotz der Vielzahl und Verschiedenheit der Phänomene beim Begriff des Rassismus zu bleiben. Denn Rassismus, und sei er noch so subtil, findet nicht in einem geschichtsfreien Raum statt. Viele der tiefsitzenden Vorurteile haben historische Vorläufer, wir haben es also mit alten rassistischen Ideen in neuen Gewändern zu tun. Und auch wenn Rassismus heute glücklicherweise nicht die Radikalität vergangener Zeiten besitzt, so ist die Wirkung, die von ihm ausgeht, dennoch gewaltsam. Rassismus durch einen anderen Begriff zu ersetzen, hieße, die von ihm ausgehende Gewalt und Existenzbedrohung zu bagatellisieren.
Die Anekdote aus Berkeley verdeutlicht aber auch, dass die Frage »Was ist Rassismus?« ebenso diskutiert werden muss wie die, welche Mittel gegen ihn ergriffen werden sollten. Das ist nämlich selbst dann nicht unstrittig, wenn man sich über die Existenz rassistischer Diskriminierung einig ist und ebenso darüber, dass diese keine Daseinsberechtigung hat. Nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in der Politik und Forschung wird über solche Schwierigkeiten debattiert. Und tatsächlich stehen wir heute vor der Herausforderung, dass viele unterschiedliche Facetten des Rassismus zur selben Zeit nebeneinander existieren und unterschiedliche Zugänge erfordern. Ja, es sind turbulente Zeiten.
Im Grunde ist es aber nicht zentral, genau zu definieren, ab wann man von Rassismus sprechen sollte. Über die Jahrzehnte der rassismuskritischen Forschung hinweg sind so viele und so unterschiedliche Definitionen entstanden, dass eine Diskussion kein Ende fände. Und so funktioniert Rassismus auch nicht – oder besser: heute nicht mehr. Wesentlicher als die Frage, ob die in den Begriffen wie ›Integration‹ und ›Migrationshintergrund‹ enthaltenen Kategorien und Trennungen bereits zum Rassismus gehören oder dieser erst danach beginnt, ist es für mich, die Zusammenhänge zu verstehen. Mich interessiert, wie solche begrifflichen Sondierungen Vorurteile, soziale Ausschließung und Gewalt vorbereiten. Ohne derartige Grenzziehungen könnte der rassistische Diskurs gar nicht existieren.
Abwertende Darstellungen von Migrant_innen und Migration als gefährlich, kriminell oder kulturell ›andersartig‹ bereiten den Nährboden für eine gesellschaftliche Radikalisierung, und Begriffe wie »Flüchtlingswelle« und in die Sozialsysteme einwandernde »Wirtschaftsflüchtlinge« fördern die Akzeptanz für Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Denn immer, wenn wir auf eine solche Weise anfangen, über Menschen zu sprechen, steht das Menschliche selbst bereits auf dem Spiel. Man kann Rassismus nur entgegentreten, wenn man bereit ist, sich ein unabschließbares Unterfangen vorzunehmen: Wenn man bereit ist, seine Komplexität kennenzulernen und dabei zu akzeptieren, dass man nicht auf abschließende Antworten treffen wird. Dieses Buch ist eine Einladung, sich dem Thema zu nähern und Rassismus entgegenzutreten.
Kleine Begriffskunde
Rassismus, rassistische Diskriminierung: In seiner politischen und rechtlichen Bedeutung meint Rassismus jedwede Ausschließung, Ablehnung oder Ungleichheit eines Menschen aufgrund von ethnischer Herkunft, race, Hautfarbe, Abstammung, Religion oder des nationalen Ursprungs. Jenseits dessen beschreibt der Begriff aber auch Ideologien über die Höher- und Minderwertigkeit bestimmter Menschengruppen. Die Verbreitung eines solchen Denkens ebenso wie Beleidigungen bezeichnet man als hate speech.
Fremdenfurcht (Xenophobie): Rassismus basiert weder auf Furcht noch äußert er sich gegenüber Fremden. Zwar kann das Erzeugen von Angst Rassismus radikaler machen, ihm zugrunde liegen jedoch vor allem Machtstrukturen. Auch wird Rassismus zumeist gegenüber Personen geäußert, die Teil der Gesellschaft und somit keine Fremden sind, so wie etwa im Falle des Antisemitismus oder des deutschen Rassismus gegen ›Menschen mit Migrationshintergrund‹. Der Begriff erklärt sie also erst zu ›Fremden‹ und schließt sie so aus. Der Begriff ›Fremdenfurcht‹ zeichnet so gesehen nicht nur ein falsches Bild von Rassismus, sondern verharmlost ihn auch noch. Denn die Angst vor etwas Fremdem ist eine zutiefst natürliche Reaktion; Rassismus hingegen nicht.
Ausländerfeindlichkeit: Ähnlich wie Fremdenfurcht suggeriert ›Ausländerfeindlichkeit‹, dass sich Rassismus nur gegen eine spezifische Gruppe richtet, ja dass es diese Gruppe überhaupt gibt. Der Begriff Ausländerfeindlichkeit hatte seine Hochphase