Richard Wiedendoms verstörender Wendegewinn. Hubert Schem. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hubert Schem
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745018981
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      1

      Mit meinem Freund Richard schien mir etwas nicht zu stimmen, als wir in meiner neuen Lieblingsgaststätte am Landwehrkanal in Kreuzberg bei unserem Eingangsgeplauder von Thema zu Thema sprangen. Zwar bemerkte ich keine Abweichungen von den Gepflogenheiten, die sich bei unseren unregelmäßigen Treffen an wechselnden Orten in vielen Jahren herausgebildet haben - mal ernsthaft konzentriert, mal mit unserer inzwischen fast nur noch gutmütigen Ironie. Doch irgendetwas zwang mich zu erhöhter Aufmerksamkeit, ohne mir meine angenehme Grundstimmung zu verderben. Erst als ich später am Tisch eines unserer ganz privaten Stichwörter gebrauchte, mit denen wir uns gegenseitig bei angemessener Gelegenheit längst Vergangenes vor Augen und ins Gemüt zaubern können, reagierte Richard deutlich auffallend. Er ging auf mein gutgemeintes Verweisungsspiel gar nicht ein, sondern schien sekundenlang geistesabwesend zu sein. Jetzt war mir klar: Richard hat sich heute Abend von Anfang an bemüht, heiter zu erscheinen und locker über mehr oder weniger Belangloses zu reden, obwohl ihm etwas Schwerwiegendes auf der Seele liegt.

      Mir verengten sich Brust und Hals. Und sofort vermischte sich meine Sorge um Richards Befinden mit einer dunklen Angst vor einem eigenen Kollaps mit unabsehbaren Folgen. Trotzdem unterdrückte ich einen Impuls, Richard geradeheraus zu fragen, was mit ihm los sei. Als er wenig später seinen noch halbvollen Teller zurückschob, schweigend jetzt, mit gesenktem Blick, glaubte ich bereits sicher zu sein, dass mein Freund mir gleich von einer jener persönlichen Katastrophen berichten würde, auf die man in unserem Alter gefasst sein muss. Ohne Genuss kaute ich die letzten Bissen und wartete stumm auf seine schlimme Mitteilung.

      Glücklicherweise dann doch nichts von einer Krankheit zum Tode. Und keine Rede von einer persönlichen Katastrophe anderer Art. Unendlich erleichtert hörte ich Richard zu, wie er mir ernst und konzentriert von dem neuesten Stand einer ihn umtreibenden außergewöhnlichen Angelegenheit berichtete. Außergewöhnlich auch, weil sie bisher nie zwischen uns erörtert worden war. Ich erinnerte mich sofort, wie er Jahre zuvor eine kurze Bemerkung darüber gemacht hatte: so betont beiläufig, dass ich die stumme Bitte, es dabei bewenden zu lassen, nicht hatte überhören können, ohne grob gegen die ungeschriebenen Regeln unserer Freundschaft zu verstoßen. So hatte ich meine Neugierde dauerhaft gezügelt. Ob ihm damals und in den verflossenen Jahren etwas im Zusammenhang mit dieser Angelegenheit peinlich war, ob ihm das Ganze noch zu diffus für ein vernünftiges Gespräch erschien oder ob er mich aus unerfindlichen Gründen davon abhalten wollte, mich fachlich einzumischen – ich durfte dem nicht nachgehen.

      Als wir uns jetzt, wenige Tage vor Weihnachten 1996, in meiner neuen Lieblingsgaststätte gegenübersaßen, waren fast sechseinhalb Jahre vergangen, seit Richard über seinen Schatten gesprungen war und etwas in Gang gesetzt hatte, das ihn jahrelang vordringlich beschäftigen und sein Leben dauerhaft verändern sollte. In einer der ersten Wochen nach dem Beginn der Währungsunion – die Diskussionen über einen sogenannten Dritten Weg für die DDR waren angesichts der Übermacht der wirtschaftlichen Fakten nahezu verstummt und die Verhandlungen über das Wie und Wann der bereits prinzipiell beschlossenen Wiedervereinigung gingen auf verschiedenen Ebenen in einem beispiellosen Tempo voran - hatte er sich ins Auto gesetzt, war proplemlos von Spandau nach Rostock gefahren, hatte sich dort durchgefragt, um bei der damals zuständigen Behörde einen Anspruch anzumelden, der sich auf ein Grundstück in der Nähe des Stadthafens von Rostock bezog. Dabei war ihm selbst noch nicht vollkommen klar, was genau Inhalt dieses Anspruchs sein sollte. Er wollte zunächst vorrangig verhindern, dass von dem oder der Verfügungsberechtigten - damals wahrscheinlich die Anfang März 1990 vom Ministerrat der DDR gegründete Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums (kurz: Treuhandanstalt oder Treuhand) - so verfügt wurde, dass eine immerhin schon denkbare Rückübertragung des Eigentums an den Erben des früheren Eigentümers nicht mehr möglich sein würde.

      Inzwischen war die Rechtslage durch ein besonderes Gesetz klarer geworden, und Richard hatte einige Fakten von mitentscheidender Bedeutung herausgefunden. Entschieden war allerdings noch gar nichts. Es ging um das Eigentum an einem Grundstück, das einstmals zum Unternehmen von Richards Vater gehört hatte, nunmehr aber zu einer Werftanlage gehörte. Allem Anschein nach musste es einen Millionenwert haben. Richards Vater war im Herbst 1944 vom NS-Volksgerichtshof zum Tode verurteilt, aus unbekannten Gründen aber nicht hingerichtet worden. Höchstwahrscheinlich war mit diesem Urteil auch sein Vermögen eingezogen worden. Bereits Anfang der fünfziger Jahre hatte er sein Unternehmen, dessen Hauptsitz sich in Berlin-Spandau befand, zurückerhalten. Allerdings ohne das Rostocker Grundstück, das sich damals in der Verfügungsgewalt irgendeiner Organisation der DDR befinden musste. Den Verlust dieses Grundstücks hatte der Unternehmer nach Richards Erinnerung bis zu seinem Tod als endgültig angesehen, als einen Verlust, der nach menschlichem Ermessen auch niemals in irgendeiner Weise wiedergutgemacht werden würde. Als Richard die Nachfolge antrat, war das Grundstück in den Büchern der Baustoffhandlung Philipp Wiedendom GmbH nicht einmal mit einem Erinnerungswert enthalten. Und die Erinnerung in den Köpfen war von Jahr zu Jahr mehr verblasst. Bis die große Wende in der DDR den Erinnerungsverlust jäh aufhob und Möglichkeiten eröffnete, die jahrzehntelang bestenfalls als Träumerei eingeschätzt worden wären.

      Jetzt bat Richard mich, ihn in dem endlosen Verwaltungsverfahren rechtlich zu vertreten. Sein früherer Optimismus sei von einem Wechselbad der Gefühle abgelöst worden. Auf eine Phase, in der er sich wie ein Kind fantastische Zukunftsbilder ausmale, folge gewöhnlich eine Phase tiefer Skepsis, die wiederum von einer optimistischen Phase abgelöst werde. Die Problematik in dem Verfahren werde immer verwickelter statt klarer. Wenn er nicht aufgeben und seinen Antrag bei der inzwischen zuständigen Landesbehörde in Schwerin zurücknehmen wolle, brauche er so schnell wie möglich hochqualifizierte Hilfe.

      Ich zweifelte nicht, dass Richard von mir sofort eine vorbehaltlose Zusage erwartete. Doch ich zögerte. Aus guten Gründen, wie ich meinte. Schließlich sagte ich weder ja noch nein, sondern warnte ihn halbherzig vor falschen Erwartungen. Mir sei die spezielle Rechtsmaterie fremder als das Recht im Weltraum. Außerdem könne ich mich als eingefleischter Zivilrechtler im Bereich des Öffentlichen Rechts kaum souveräner als ein gebildeter Amateur bewegen. Und schließlich müsse er doch wissen, wie wenig sich ein deutscher Rechtsprofessor im allgemeinen zur Interessenvertretung in einem handfesten Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren eignet – besonders ein frisch emeritierter, der sich außerhalb des sicheren Geheges seines Fachgebiets erst noch zurechtfinden müsse.

       Meinen Argumenten setzte Richard zunächst nur ein nachsichtiges Lächeln entgegen. Nach längerem Schweigen sammelte er seine Züge, wie unmittelbar vor dem Beginn eines Referats, zögerte noch einmal einige Sekunden und begann dann in einem Tonfall zu sprechen, der mich sofort zu höchster Aufmerksamkeit zwang: „Ich kenne dich seit fünfundvierzig Jahren, Walter. Ich vertraue deinen intellektuellen und fachlichen Fähigkeiten uneingeschränkt. Ein paar Tage Studium der Akten, der Rechtsvorschriften und der bisherigen Rechtsprechung, dann bist du der Experte, den ich benötige. Ich brauche jetzt keinen kläffenden Wadenbeißer und keinen aufgeblasenen Wichtigtuer, sondern einen wirklichen Fachmann mit zivilen Manieren, der mir hilft, das zu bekommen, was mir rechtlich zusteht. Nicht weniger und nicht mehr. Und noch etwas sehr Wichtiges: inzwischen geht es mir um viel mehr als um das Eigentum an einem Grundstück. Hätte ich das 1990 gewusst oder auch nur geahnt, ich weiß heute nicht, ob ich mich trotzdem entschieden hätte, meinen möglichen Anspruch anzumelden. Nun, ich habe die Geschichte aufgerührt. Jetzt muss und will ich die Konsequenzen tragen.“

      „Nach meinem Eindruck doch wohl sehr angenehme Konsequenzen“, warf ich ein.

      Richard stutzte, sah einige Sekunden durch mich durch und fuhr fort, ohne meinen Einwurf zu beachten: „Wenn die Entscheidung über meinen Rückübertragungsantrag davon abhängt, wie mein Vater zu den Nazis stand – oder genauer: wie die Nazis zu ihm standen -, dann muss nach fast sechzig Jahren einiges gründlich aufgeklärt werden, was zu Lebzeiten meines Vaters aus dunklen Gründen zu den Tabu-Themen in unserer Familie gehörte und danach von mir aus ebenso dunklen Gründen verdrängt worden ist. Hat die mörderische Freisler-Bande ihn zum Tode und zum Einzug seines Vermögens verurteilt, weil sie ihn als Feind des Nazi-Systems einschätzte, oder beruhte das Urteil auf anderen Gründen? War nur das Strafmaß für eine tatsächlich begangene Straftat unangemessen oder hat Vater sich aktiv als Widerständler gegen die Nazis betätigt? Warum wurde das Todesurteil nicht wie damals üblich innerhalb weniger Tage nach der Verkündung vollstreckt? Wieso ist Vaters Unternehmen in jener finsteren Zeit so aufgeblüht?