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Unser aller Psychose
Gesine Palmer
Copyright: 2014©Gesine Palmer
ISBN 978-3-8442-8614-4
Published at epubli GmbH, Berlin
Inhaltsverzeichnis:
I. Ungewöhnlich intensive Krankheitseinsicht
Einmal war ich bei einer Kollegin, mit der ich nur oberflächlich befreundet zu sein glaubte, zu einer Geburtstagsparty eingeladen. Das Geburtstagskind, eine hochbegabte Intellektuelle, die ich immer sehr bewundert habe, litt unter einer schweren Krebserkrankung und hatte, da sie fürchtete, dass es ihr letztes derartiges Fest sein würde, sehr viele Gäste eingeladen. Selbstverständlich waren unter den Gästen auch ihre beiden Schwestern. Die Gastgeberin, von den drei Schwestern die älteste, war mit ihrer Schönheit auf jenem unwirklich erscheinenden Höhepunkt angekommen, den man manchmal an Menschen sieht, die dem Tode tatsächlich sehr nahe sind und entsprechend den herabziehenden Banalitäten der anderen weit entrückt erscheinen. Ihre jüngste Schwester war von einer Schönheit wie ich sie auch von der älteren aus der Zeit unserer ersten Begegnungen in Erinnerung hatte: Irdisch, elegant, bodenständig, gepflegt, gekonnt inszeniert. Die mittlere Schwester hingegen hatte ihre mögliche Schönheit tendenziell durchgestrichen und arbeitete anscheinend daran, auch andere Wirklichkeiten und Möglichkeiten durchzustreichen, indem sie sich zum Beispiel vorstellte mit dem Satz: „Ich bin … und habe eine Psychose.“ Dabei sah sie mir in aller wünschenswerten Festigkeit und ein bisschen forschend in die Augen.
Das hat mich verblüfft. Bis dahin hatte ich gedacht, dass man zwar über Neurosen, Komplexe und Zwangsstörungen recht munter plaudern könne, möglicherweise auch über einstmals überstandene Psychosen – aber dass jemand dir ins Gesicht sagt: „Ich habe eine Psychose“, fand ich erst geradezu lustig, dann, als ich merkte, sie meinte es ernst und die anderen nahmen es auch ernst, geradezu mundtot machend erstaunlich.
Ich habe also nicht viel dazu gesagt, sondern haupt-sächlich zugehört, ihr und den anderen, und das lange. Immerhin war es ja möglich, dass ich etwas verwechselte – zwar steht im Lexikon von Laplanche und Pontalis ebenso wie in vielen anderen Manualen, dass in der Psychose der Realitätsverlust zuallererst die „Krankheitseinsicht“ affiziere. Die von ihr Betroffenen wissen also quasi bereits per definitionem nicht, dass sie krank sind, oder wollen es nicht wahrhaben. Es ist immer noch eine erstaunlich kleine Minderheit von Menschen, die Anstoß daran nimmt, dass „die fehlende Krankheitseinsicht“ zu einem Hebel für die Zwangsbehandlung von Menschen werden kann, denen man in manchen Fällen womöglich nicht einmal sagt, was man warum mit ihnen macht, „da mit ihnen ja sowieso nicht zu reden sei“. So etwas habe ich leider wirklich sehr oft gehört und später – auf verschiedenen Parties und in den sozialen Medien – recht lebhafte Diskussionen über gerade diesen Punkt geführt, der mit der Idee der Freiheit der Individuen nun einmal auf keine Weise vereinbar ist. Immerhin ist die „fehlende Krankheitseinsicht“ in den meisten Arbeiten zum Thema, die ich gesehen habe, kein ausschließliches und auch kein zwingend erforderliches Kriterium für eine Psychose, so wenig übrigens wie „andauernder Realitätsverlust“. Im Gegenteil, Freud selbst schreibt der gesunden Restpersönlichkeit die stärkste Kontinuität zu, wenn er sagt: „Das Problem der Psychose wäre einfach und durchsichtig, wenn die Ablösung des Ichs von der Realität restlos durchführbar wäre. Aber das scheint nur selten, vielleicht niemals vorzukommen. Selbst von Zuständen, die sich von der Wirklichkeit der Außenwelt so weit entfernt haben wie der einer halluzinatorischen Verworrenheit (Amentia), erfährt man durch die Mitteilung der Kranken nach ihrer Genesung, dass damals in einem Winkel ihrer Seele, wie sie sich ausdrücken, eine normale Person sich verborgen hielt, die den Krankheitsspuk wie ein unbeteiligter Beobachter an sich vorüberziehen ließ.“1
Nimmt man aber das Kriterium des Realitätsverlusts mit „fehlender Krankheitseinsicht“ als einer Konsequenz ernst, müsste jemand, der dir ins Gesicht sagt, er leide unter einer Psychose, einen performativen Selbstwiderspruch aufführen. Die Gründe, aus denen er das täte, könnten sicher unterschiedlich sein: er könnte ein-fach einen Scherz machen wollen, er könnte Wind davon bekommen haben, dass er in einem solchen Ruf steht, und nun die vage Hoffnung hegen, diesen selben Wind der sozial immer katastrophalen Wirkung einer solchen Zuschreibung aus den Segeln zu nehmen, indem er ihr zuvor kommt, oder – wie ich es in diesem Fall für möglich halten wollte – die junge Frau hatte den (mehr oder weniger bewussten) Wunsch, der unwirklich wirkenden Wirklichkeit ihrer schönen und „todgeweihten“ Schwester eine eigene widersprüchliche Haltung zur Wirklichkeit entgegenzusetzen. In jedem Fall aber darf man sich nach so einer Selbstvorstellung auf einiges gefasst machen.
Die Gastgeberin sprach zu vorgerückter Stunde, als der große Andrang vorbei war und nur noch sehr wenige Menschen an ihrem Küchentisch saßen, in aller Gelassenheit vom wohl unvermeidbar bevorstehenden, aber so weit wie möglich hinauszuschiebenden Tod und von dem Leben, das sie ihm täglich abtrotzte: für ihre Tochter, für ihre Arbeit, für sich selbst. Die nach eigenen Aussagen psychotische Schwester blieb am Tisch sitzen und nahm – ebenfalls in aller Gelassenheit – an dem Gespräch teil, zu dem sie gelegentliche Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit der Schwestern, ein paar praktische Erwägungen die kleine Tochter der Kranken betreffend und andere vollständig plausible Gedanken beitrug. Umso mehr fragte ich mich, was an ihr um Himmels willen psychotisch sein sollte, und wieso sie sich mir gleich zu Beginn mit dieser Klassifizierung und Selbststigmatisierung vorgestellt hatte. Immerhin hatte sie nicht einmal gesagt, was ich in diesen (philosophisch hochgebildeten) Kreisen eher erwartet hätte: dass sie eine Borderline-Störung oder dergleichen habe.
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