Die Freizeitkicker
Rammler und Alte Herren
Geschichte(n) einer Fußballmannschaft
Copyright: © 2012 Werner Augustin
Horden und Stämme
Wir Menschen vertreiben uns die Zeit auf diesem Planeten schon seit etwa einhunderttausend Jahren. Doch erst im vorletzten Jahrhundert kamen die ersten Artgenossen auf die Idee Fußballschuhe anzuziehen, einen Lederball in ein Tor zu kicken und dem wilden Treiben angemessene Regeln zu geben. Der Legende nach sollen es Engländer gewesen sein. Aus diesen Anfängen heraus entwickelte sich jenes Fußballspiel, welches heute als Weltkulturerbe auf dem gesamten Globus anzutreffen ist. Die Erfindung und Weiterentwicklung dieses Spiels muss selbstverständlich als eine herausragende intellektuelle Leistung der Menschheit gewürdigt werden. Eine Welt ohne Fußball wäre für sehr viele Menschen sinnentleert und ihres Mittelpunktes beraubt.
Bei aller Euphorie darf aber eines nicht übersehen werden: Es gibt zwei Arten von Fußball, den Vereinsfußball und den Freizeitfußball. Die Unterschiede sind natürlich fundamental. Beide Gruppen stehen sich eher feindselig gegenüber. Bezeichnet man einen Vereinsfußballer als Freizeitkicker, wird er dies als Beleidigung wahrnehmen und gegebenenfalls mit physischer Gewalt antworten. Vereinsfußball ist schon von Natur aus nicht spaßig. Es handelt sich um echten Männersport und selbiger besteht in erster Linie aus Blut, Schweiß und Tränen. Hier wird mit Ernst und großer Anspannung gekämpft. Freizeitkicker hingegen sehen im Fußball immer noch nur ein Spiel und suchen Spaß und Entspannung. Sie wollen bewusst in keiner Vereinsstruktur organisiert sein. Training gibt es nicht, oder besser gesagt, auch im Training wird nur Fußball gespielt. Es herrscht eine gewisse Anarchie und ein gutes Maß unfreiwilliger Komik, angesichts nicht zu übersehender körperlicher und technischer Unzulänglichkeiten. Obwohl, in jungen Jahren war auch für jeden Freizeitkicker eine Karriere in der Nationalmannschaft vorgesehen. Doch irgendwas lief schief. Entweder kam eine Frau dazwischen, oder eine Verletzung, oder das überragende Talent wurde einfach nicht erkannt, oder man hatte Wichtigeres zu tun. Deshalb steht heute die gemeinschaftliche Interaktion und Geselligkeit im Mittelpunkt. Fußball und Kneipe bilden bei Freizeitkickern eine gelungene Symbiose.
Der Vereinsfußballer sieht sich selbst auf einer höheren Stufe der Entwicklung angesiedelt. Diese Selbsteinschätzung ist nicht gänzlich falsch und wird auch wissenschaftlich gestützt. Unsere ganz frühen Vorfahren waren ja allesamt Einzelgänger, noch viele tausend Jahre vom Mannschaftssport Fußball entfernt. Erst langsam setzte eine Vergesellschaftung des Menschen ein. Ethnologen erklären uns dies gern an Hand von vier Entwicklungsstufen. Am Anfang waren die Horden. Kleine gesellige Gruppen, eher impulsiv und hauptsächlich existentiellen Tätigkeiten zugewandt wie Jagen, Feuer machen und Fortpflanzen. Eine Entwicklungsstufe höher stehen die Stämme. Diese verteidigen schon ein eigenes Territorium und verfügen auch über ein Mindestmaß an Ordnung und Organisation. Danach kommt das Führertum. Dieses zeichnet sich durch einen Anführer aus, der die Gruppe und ihre Mitglieder jederzeit im Griff hat. Heute leben wir in der vorläufig letzten Ausbaustufe der Vergesellschaftung des Menschen, dem Staat. In einem Staat werden soziale Unterschiede ausgebildet und verfestigt, wird die Finanzwirtschaft zum Wettbüro entwickelt und die Bürokratie eingeführt. Der Freizeitfußball ist ganz eindeutig auf halbem Weg zwischen einer Horde und einem Stamm zu verorten. Den Vereinsfußball dagegen ordnen Ethnologen, ohne Diskussion und Zweifel, dem Führertum zu. Denn, im Vereinsfußball wird nach einem verlorenen Spiel gerne auf das Fehlen einer echten Führungspersönlichkeit hingewiesen, die Mannschaft als wilde Horde beschimpft.
Nun ist es leider so, dass moderne Menschen von heute weder mit einer Horde noch mit einem Stamm etwas anfangen können. Dies ist zu bedauern, bleibt doch der Zugang zur mystischen Welt des Freizeitfußballs gerade deshalb vielen Mitmenschen verwehrt. Dieses harte Schicksal trifft in erster Linie Mitglieder des anderen Geschlechts, denen oft jedes Verständnis für das merkwürdige Treiben ihres Liebsten in einer Horde von Freizeitkickern fehlt. Wir wissen ja: Männer gehen nicht gerne einkaufen. Viel lieber flüchten sie in eine entfernte Welt. Dort angekommen spielen sie Fußball und geben ihren Mannschaften lustige Namen wie Always Ultras, Westkreuz Rammler oder Schluss mit Lustig. Dieses Büchlein gewährt nun erstmalig tiefe Einblicke in den Seelenzustand von Freizeitkickern. Damit verbunden ist auch die kleine Hoffnung, dass auch Außenstehende verstehen werden.
Fußball für Einsteiger
Für all jene, die noch keinen rechten Zugang zur Welt des Freizeitfußballs gefunden haben, seien zunächst wesentliche Merkmale dieses Spiels erläutert. Dieser Grundkurs ist unabdingbare Voraussetzung, um später im Buch den Spielberichten aus den Epizentren des Freizeitfußballs einigermaßen folgen zu können. Fußball ist dem Wesen nach anarchisch und wenig kontrollierbar. Immerhin streiten zweiundzwanzig Spieler um nur einen Ball. Dies birgt naturgemäß die Gefahr von schnell eskalierenden Konflikten. Vielerorts wurde schon der Vorschlag unterbreitet, es solle doch jeder seinen eigenen Ball bekommen. Dann würde nicht mehr so ein Gerangel um den einen Ball entstehen. Aber, solltest du auch schon mal diesen Gedanken im Dunkeln verspürt haben, sprich ihn nie aus. Schon gar nicht im Beisein eines Sachverständigen. Ich kann dir sagen, zweiundzwanzig Bälle würden die Grundlage des Spiels vernichten. Es bleibt besser bei nur einem Ball, eine prall mit Luft gefüllte Lederkugel. Wenn du mal den Satz ‚der Ball will heute nicht ins Tor‘ hören solltest, sei nicht irritiert. Der Ball hat keinen eigenen Willen und kann auch nicht zwischen heute und gestern unterscheiden. Ja, ich würde sogar so weit gehen und behaupten, der Ball lebt überhaupt nicht. Somit kannst du Sprüche wie ‚der Ball führte ein Eigenleben‘, eindeutig dem Reich der Fabel zuweisen.
Für ein Fußballspiel benötigt man zwei Tore. An den beiden schmalen Enden des Spielfeldes mittig, befindet sich jeweils ein Gehäuse. Dieses besteht aus einem Rahmen, dem sogenannten Gebälk, und einem aufgespannten Netz dahinter. Das sind die beiden Tore. Jede Mannschaft verteidigt das eigene Tor, versucht aber gleichzeitig den Ball im anderen Tor unterzubringen. Hier ist der tiefere Sinn dieses Spiels zu finden. In diesem Zusammenhang hört man gerne den Satz ‚das Runde (der Ball) muss ins Eckige (das Tor)‘. Natürlich ohne Beteiligung der Hände, denn dann wäre es ja Handball. Eine andere Sportart. Tritt man den Ball versehentlich in das falsche Tor, so spricht man von einem Eigentor. Ganz schlimm, kann aber den besten Fußballspielern passieren. Wenn es dauerhaft gelingt, den Ball vom eigenen Tor fernzuhalten, so hat der Torhüter seinen Kasten sauber gehalten. Dafür ist keine Putzkolonne notwendig und auch kein Besen, sondern lediglich ein talentierter Torhüter. Der Torhüter ist offenbar wichtig, weil er als letzter Akteur den Einschlag des Balles ins eigene Tor noch verhindern könnte. Nervenstärke, Besonnenheit und Reaktionsvermögen sind da gefragt.
Um das potentielle Chaos auf dem Feld ein wenig einzudämmen, ist eine sichtbare Unterscheidung der zwei Mannschaften von großer Bedeutung. Dies erreicht man durch ein einheitliches Farbdesign der Sportwäsche einer Mannschaft, nämlich Trikots, Hosen und Stutzen. Was Trikots und Hosen sind, sollte klar sein und keiner weiteren Erläuterung bedürfen. Stutzen sind spezielle Wadenwickel für Fußballer. Sie werden gerne lässig nach unten gerollt. Damit soll signalisiert werden, dass man ohne Rücksicht auf eigene Verluste bereit ist in den Kampf zu ziehen. Aber das nur am Rande. Ängstliche Naturen stecken in die Stutzen auch noch sogenannte Schienbeinschützer. Es kann nämlich nie ausgeschlossen werden, dass ein Fußballspieler beim Tritt nach dem Ball selbigen nicht trifft, dafür aber das Schienbein des Gegners. Das kann fatale orthopädische Folgen nach sich ziehen, deshalb Schienbeinschützer. Und dann gibt es noch die Kameraden, deren Waden so dick sind, dass Stutzen gar nicht darüber passen würden. Sie dürfen ausnahmsweise auch ungeschützt spielen.
So, jetzt ist schon mal einiges klar. Es gibt einen Ball, zwei Tore und zwei Mannschaften. Nun kommt noch das in der Evolution gereifte Gehirn des Freizeitkickers dazu. Die menschliche Spezies ist ja heutzutage zumindest zeitweise dem Denken nahe, kann mitunter rationale Entscheidungen treffen. Das unterscheidet uns aber noch nicht von anderen Säugetieren. Erst die Fähigkeit Aufgaben strategisch anzugehen, trennt uns vom Affen. Deshalb darf man erwarten, dass Menschen Strategien entwickeln, damit der Ball öfters im gegnerischen Tor landet, als im eigenen. Die schwierige und unangenehme Aufgabe des Nachdenkens fällt im Fußball üblicherweise dem Trainer zu. Trainer sind meist etwas verwegene Gestalten, die häufig wegen skurriler Sprüche