Svea Dircks
Tanz der Grenzgänger
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Inhaltsverzeichnis
Tanz der Grenzgänger
“Stark genug ist der Engel
auch dir den Stein weg zu wälzen
vom Ort da der Schmerz begraben ist
unter den Scherben deiner Hoffnungen“
1. Auftakt
In diesem Sommer fehlte es an Glühwürmchen. Die Tage waren hell und üppig und warm, aber die Nächte waren leer, fade, irgendwie unbelebt. Sie saß draußen, wie so oft, ein Glas Wein auf der Armlehne, die Füße auf dem anderen Lehnstuhl, allein. Fledermäuse jagten durch die Luft, ein mutiger Vogel hörte nicht auf zu singen, aber wo blieben die Glühwürmchen?
Juliane versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Sie war immerhin psychologisch geschult. Bei anderen sah sie ganz klar die Spur, die logischen Zusammenhänge. Warum schaffte sie es nicht bei sich selbst?
Der Tag gestern hatte sie überrascht. Sie war mit einem fremden Mann mitgefahren, ohne, dass jemand davon wusste. Frank Bogner, Inhaber einer Autowaschanlage in Niedersachsen, wohnhaft in Sachsen-Anhalt. Überhaupt nicht ihre Wellenlänge und doch war sie fasziniert von ihm. 10 Jahre jünger als sie! Ein Geschäftsmann! Mit Leichen im Keller! Juliane fasste sich an den Kopf. Gleichzeitig musste sie lächeln. Irre, einfach irre!
Unerwartetes war passiert. Sie hatte sich darauf eingelassen, die Kontrolle aufgegeben. Naiv? Verführt? Oder nur einfach eine neue Facette ihres sonst so strukturierten Lebens?
Während der einstündigen Fahrt hatte Bogner eine CD eingelegt, mystische Songs, nichts dagegen einzuwenden, danach aus der Carmina Burana von Orff die Fortuna, das Glück. Am Anfang kaum hörbar, schwoll es plötzlich, unvorhergesehen, zu einem Krawall an, zu einer ungeahnten Leidenschaft. Er hatte sie angesehen, die Finger am Rädchen, leiser machen? Sie hatte mit den Schultern gezuckt, ist egal, dabei war es unheimlich laut, er hatte es so gelassen, sie hatte den Kopf an die Nackenstütze gelehnt, die Augen geschlossen und sich überlassen, dem Augenblick, der Musik, der Sehnsucht. Keiner von beiden hatte gesprochen.
****
Der Spaten glitt ab. Ein scharfes Geräusch. Der Mann stutzte. Schon oft war er auf Granit gestoßen, das Gestein, das unter seinem Haus zu finden war. Felsenfest sozusagen. Gutes Fundament. Das hier hörte sich anders an. Er stach noch einmal zu, hielt den Spaten quer. Beim Lockern liess sich die sandige Erde nicht so einfach hochnehmen. Nur wenig lag auf der Fläche, rutschte runter. Er stach tiefer, lockerte das Erdreich, bückte sich, tastete mit der Hand, berührte einen Knochen. Hatte wohl ein Hund mal vergessen. War ziemlich groß. Gelblich. Und rund. Der Mann legte den Spaten hin. Schaufelte mit der Hand. Er fuhr zurück.
Ein Schädel. Ein menschlicher. Das Gesicht von seinem Spatenhieb zerteilt. Da, wo einmal Augen gewesen sein mussten, war eine frisch gesplitterte tiefe Kerbe.
Dem Mann wurde übel.
Er verließ den Keller.
****
Juliane nahm einen Schluck Rotwein. Sie erinnerte sich an alle Einzelheiten. Sie hatte eingewilligt, seinen Keller aufzusuchen. Sie hatten sich verabredet. Natürlich wollte sie mit ihrem eigenen Auto fahren. Aber dann winkte er ab. „Steigen Sie bei mir ein. Ich fahre sowieso wieder zurück. Ist doch Quatsch, wenn wir da mit zwei Autos hinfahren.“ Ein Blick auf ihren kleinen Golf sagte alles. Es war lange her, dass sie darin sauber gemacht hatte. Sie wollte Bogner nicht mitnehmen.
„Außerdem können wir uns dann schön unterhalten“, fügte er einladend hinzu. „Na, gut!“ Nach einer Minute des Zögerns hatte sie “ja“ gesagt, intuitiv. Also saß sie in diesem Fahrzeug neben ihm, mit prickelnder Ungewissheit, gespannt, neugierig, Gefahr witternd. Die Landschaft wurde weit und hügelig. „Hier verlief früher die Grenze“, sagte er und hielt das Auto an. „Da habe ich abends immer auf die Lichter im Westen gestarrt und gedacht, wie die da wohl leben? Warum kann ich da nicht hin? Und jetzt fahre ich jeden Tag über die Grenze und mach’ mein Ding im Westen!“
Er trug eine schwarze Sonnenbrille, undurchdringlich. Das Auto, ein Chevrolet-Wohnmobil der Spitzenklasse. Ledersessel in hellgrau, geräumig, hinten ein Salon, holzvertäfelt, wie in einer Yacht. Lichterketten an der Seite und oben. Fernseher, Video, DVD, eine Decke, lose über ein Schaffell gelegt. Sie fragte sich die ganze Zeit, wie er wann und mit wem dort hinten sitzen würde. Kein Kühlschrank. Getränke gab es aus der Kiste neben dem Fahrersitz, aus der er allerlei CD’s und Literatur hervorzauberte. Nebenbei erzählte er, dass er mit seiner Frau am Wochenende auf mittelalterliche Märkte fahre oder an die Ostsee oder einfach nur so irgendwohin. Oder heute mit ihr zu seinem Keller. Über den ehemaligen Todesstreifen. Dabei hatte er verschmitzt gelacht. Einen Seitenblick riskiert.
Er besaß Waffen. Schon in seinem kleinen Büro hatte er ihr bei ihrem dritten Besuch in der Waschanlage großspurig Fotos davon gezeigt. Angeblich ein Hobby. Aber warum brauchte man Gewehre, wenn man kein Jäger war? Julianes Psychologeninstinkt mutmaßte allerlei: Potenzprobleme? Angst? Männlichkeitswahn?Wollte er sie gefügig machen ? Ein verkappter Graf Blaubart? Ein Psychopath in weißen Jeans? Juliane musste wachsam sein. Die Warnungen aller Mütter auf Erden klangen ihr im Ohr:“ Geh nie mit einem fremden Mann mit!“ Dabei passierten die größten Schweinereien innerhalb der Familie.
Der Tag gestern war eine Fahrt über die Grenze gewesen.
In jeder Hinsicht.
Ihre Welt war völlig geordnet. Verheiratet seit 26 Jahren, zwei erwachsene Kinder, beruflich gut orientiert, voller Pläne. Eine begabte Frau, an der die Wechseljahre spurlos vorüber gingen. Spurlos? Gut, sie nahm Hormone, um dieser demütigenden Hitze Einhalt zu gebieten, um jugendlich zu bleiben. Und irgendwie, diese Sehnsucht – war die nicht besser in den Griff zu kriegen? Aber sonst: die Figur mädchenhaft, auch das Lächeln,