Titel des vietnamesischen Originals: Truyên Thuy Kiêu.
Mit einem Vorwort von Irene und Franz Faber
© Herausgeberin: Claudia Borchers, Berlin 2015,
© Zeichnung Titelbild: Claudia Borchers, Berlin 2015
© ISBN: 978-3-7375-3468-0
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Wenn der Reisende von Hanoi, der Metropole der Sozialistischen Republik Vietnam, die malerisch schöne Straße nach dem Süden wählt, nimmt ihn bereits nach wenigen Stunden Vinh, die Hauptstadt der Provinz Nghê Tinh, in ihren Mauern auf. Unweit dieser alten Stadt, am Meer, liegt das Dorf Tien-Dien. Mit seinen Bananenplantagen und Palmenhainen unterscheidet es sich in nichts von den übrigen Siedlungen dieser fruchtbaren subtropischen Landschaft. Und doch ist sein Name weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt geworden. In einem seiner niedrigen Häuser wurde der bedeutendste Vertreter der vietnamesischen klassischen Literatur geboren, der Dichter Nguyên Du, Schöpfer des großen Nationalepos „Thuy Kiêu" (Das Mädchen Kiêu).
Es mag wohl wenig Persönlichkeiten seinesgleichen auf der Erde gegeben haben, deren dichterisches Schaffen so innig zum Bestandteil eines ganzen Volkes wurde, zum lebendigen Born für Männer und Frauen, die sich noch bis vor wenigen Jahren im wesentlichen zu den Analphabeten zählen mußten. Selbst in der erniedrigenden Zeit kolonialistischer Fron gab es kaum eine Hütte zwischen dem Delta des Mekong und den Bergen des Tây Bac, in der nicht einige Verse des Epos von der Kiêu bekannt waren. Im melodischen Rhythmus der Dichtung erscheint dem Bauern die harte Arbeit des Reispflanzens leichter. Die Reime werden dort gesungen, wo sich jung und alt nach der Hitze des Tages gemeinsam um die Schale grünen Tee und um die Wasserpfeife zusammenfinden.
Selbst die Kleinen in den Schlaf wiegen die zarten Töne. In der schwersten Zeit des vietnamesischen Volkes, in seinem Kampf gegen die ausländischen Invasoren, spiegeln sich in den Versen dieser Dichtung die eigene Not und Traurigkeit, aber auch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Die Tage des nationalen Befreiungskampfes sahen ein ganzes Volk in Waffen, doch sie sahen es auch an den nächtlichen Lagerstellen der endlosen Front vereint, den Worten des Vorlesers lauschend, die Nguyên Du und sein Werk unter ihnen lebendig werden ließen. Die Dichtungen dieses großen Klassikers verdanken ihre Volkstümlichkeit dem Geist eines tiefen Humanismus, der sie durchdringt. Obwohl Nguyên Du einer längst vergangenen Epoche angehört, ist der Inhalt seiner Epen von so kämpferischer Lebendigkeit, daß sie bis zum heutigen Tag das Ringen um die hohen Ideale der Menschheit wegweisend fördern.
Die Zeit, in der Nguyên Du lebte (1765—1820), war eine der turbulentesten in der Geschichte Vietnams. Nie zuvor hatte das Feudalregime eine solche Krise erlebt wie in dieser Periode. So wurde der Dichter Augenzeuge des Untergangs der Tring, der Nguyên und der Lê, aber auch des Triumphes der größten Bauernerhebung Indochinas, des Tây-Son-Aufstandes. Er sah die Armeen des Volkes über die siamesischen Eindringlinge im Süden und über die Mandschu-Invasion im Norden siegen. Und er sah den Verrat, die Mißgunst, den Neid, die Zwietracht, das Verbrechen — und wieder die Unmenschlichkeit volksfremder Dynastien.
Nguyên Du hatte nicht — wie die meisten Dichter seiner Zeit — in der Bambushütte eines Bauern das Licht der Welt erblickt. Er war der Sohn eines Mandarins, dessen Familie der Dynastie der Lê lange gedient hatte. Das Geschlecht, dem er entstammte, atmete den Geist der konfuzianistischen Welt. Wenn der Dichter den Kranz der Unsterblichkeit errang, dann deshalb, weil er trotz Herkunft und Erziehung den Weg zum Volk fand. Im gemeinsamen Alltag mit jenen, die unter der Bürde des Lebens zusammenbrachen, erkannte er die Hohlheit der sogenannten Ewigen Ordnung der Dinge, zu der sich auch die Dynastien und ihre Kreise rechneten. So öffnete sich sein Herz bald den landlosen Bauern, die unter der Knute des Mandarinentums nicht einmal ein paar Reispflanzen ihr eigen nennen konnten. Er schrieb für den Soldaten, der für die Profitgier der Dynastien sterben sollte, für den Hausierer, dessen Schulter unter dem Gewicht der Bambustrage vernarbt war, für die unglücklichste der Frauen, die die Not zwang, ihren Leib feilzubieten.
Den Gegenstand seiner Dichtung hat Nguyen Du einer alten chinesischen literarischen Arbeit entnommen, die im Land der Mitte kaum bekannt war. Dennoch ist „Das Mädchen Kiêu" weit davon entfernt, etwa eine bloße Übertragung ins Vietnamesische zu sein. Der Genius des Dichters hat in Kiêu eine Heldin mit so menschlich tiefen, der Eigenart seines Volkes entsprechenden Charakterzügen geschaffen, daß sie überhaupt nicht mehr mit ihrer Vorgängerin aus dem Norden verglichen werden kann. Die Geschichte der Kiêu ist die Geschichte einer Liebe. Wer einmal das alte Asien und seine jahrtausendealten Traditionen kennengelernt hat, weiß, daß allein schon eine Dichtung, in deren Mittelpunkt diese menschlichste aller Regungen steht, eine Kampfansage ist: Kampf gegen die niedrigsten Instinkte, gegen Herrschsucht und brutale Gewalt, gegen die Verksklavung der Frau und die Tyrannisierung der Familie, gegen die ganze Sittenlosigkeit jener Epoche. Die Geschichte der Kiêu ist aber auch die Geschichte der Tapferkeit, der Treue, des Glaubens, des Hoffens und des unermüdlichen Ringens um eine bessere Welt. Sie ist nicht nur das Drama eines Menschen, der verzweifelt, im Würgegriff eines grausamen Geschicks, immer wieder von neuem den Weg nach den Höhen der Reinheit und des Glücks sucht. Sie ist auch das Drama einer Klasse, der jahrhundertelang die Kraft fehlte, einen Ausweg aus dem Feudalismus zu finden.
Nguyên Du entlarvt mit seinem Epos eine Epoche, die nur ein Gesetz kennt —das Gesetz des Dschungels, nur ein Recht — das Recht der Gewalt. Er sah nicht die Lösung und konnte sie nicht sehen. Wohl ahnte der Dichter einerseits, daß das Vertrauen zu Buddha nur eine trügerische Hoffnung sei, diesen Teufelszyklus zu sprengen. Aber andrerseits war die Zeit, in der er lebte, nicht reif genug, sich vom metaphysischen Weltbild frei zu machen.
„Das Mädchen Kiêu" wird nicht nur wegen seiner fortschrittlichen Thematik eins der bewunderungswürdigsten Denkmäler vietnamesischer Dichtkunst bleiben. Wie kein zweiter hat es Nguyên Du verstanden, die volkstümliche vietnamesische Versschöpfung mit der gediegenen Kultur chinesischer Klassik zu verbinden. Seine literarischen Gemälde finden in der vietnamesischen Poesie nicht ihresgleichen. Die Frische eines Frühlingsspaziergangs, die Schrecknisse einer unheilvollen Nacht, die Empfindungen eines keuschen Mädchens, die niedrige Gier eines Bordellbesitzers — es gibt kein Bild, das die Feder des Dichters nicht mit vortrefflicher Leichtigkeit zeichnet. Die Geschichte der Thuy Kiêu ist ein nachahmenswertes Beispiel, wie die Sprache des Volkes zur vollendeten künstlerischen Aussage gelangen kann.
Die Übertragung des Werkes in eine der indoeuropäischen Sprachen stößt auf Schwierigkeiten, die im ersten Augenblick nahezu unüberwindlich erscheinen. So ist es unmöglich, im Deutschen die Musikalität der vietnamesischen Sprache wiederzugeben. Ihre Eigenart, in sechs Tonhöhen gesprochen zu werden, haben die klassischen Dichter so meisterhaft genützt, daß jedes Epos gleichzeitig einen Reigen vollendeter Melodien darstellt. Eine Übersetzung — mag sie noch so getreu sein — ist daher nie mehr als ein Text, dem die Partitur fehlt.
Eine weitere Schwierigkeit liegt in der den Klassikern eigenen Sprache begründet. Ihre Verse lehnen jede präzise Wiedergabe ab, die geeignet wäre, die Vorstellungswelt des Lesers zu begrenzen. Ihre bewußte Ungenauigkeit, ihre Vorliebe, verschiedenartige Begriffe oft willkürlich zusammenzuziehen, wird noch durch den besonderen Charakter der einsilbigen vietnamesischen Sprache unterstützt. Schließlich unterliegt das Versmaß der vietnamesischen klassischen Literatur einer Gesetzmäßigkeit, die im Deutschen auch nicht im entferntesten eine Parallele findet.
Eine besondere Schwierigkeit stellt die den indoeuropäischen Sprachen gegenüber völlig andere Auffassung vom Charakter der Wörter dar. Typisch dafür ist bereits der Anfang der Dichtung: Tram nam. Wörtlich übersetzt heißen diese beiden Wörter: hundert Jahre. Aber der vietnamesische