Gert-Peter Merk
Die Frau, die fährt. Liebesgeschichten
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Inhaltsverzeichnis
Objektiv: offen
Sie stieg die breiten Stufen hinauf, ihr Rock schob sich hoch. Sie sah wohl, ich komme ihr näher. Am liebsten wollte ich schon das Paradies kennen lernen. Ich glaube, nicht mal die Spiegelung des gebohnerten Fußbodens zeigte mir Teile davon. Als wäre es heute, erinnere ich mich:
Nur nicht ins Rutschen kommen. Ich fühle mich nicht belastet; meine Schulsachen von heute Vormittag sind zu Hause. Der Eingang liegt hinter mir, riesiges Portal und Glaswände um mich herum. Dort das Geländer, zu beiden Seiten der Treppe, am Rand mit poliertem braunem Holz verziert, das mir die Angst nimmt, vor abwegigen Gedanken auszurutschen, während ich im Altbau im Westend hochsteige.
Drei Stufen auf einmal springen wie im Traum, die Knie langsam hochziehen, mit Sehnsucht die Füße ausgehängt lassen, die Schuhe pendeln sogar, dass fast die Hosenbeine ausgebeult werden oder ihren Schutz mit den Aufschlägen verlieren. Schon lange möchte ich gut angezogen sein, damit ich nicht übersehen werde, aber auch nicht auffalle.
Vorwärts ja, aber wie im eingeübten Bewegungssinn. Über die ererbte Vernunft bin ich mir nicht so sicher. Sie war, bevor ich der Frau nahekomme. Oder brauch ich gar keine spiegelnde Vernunft? Wenn keiner hilft, dann sieht es schlecht für mich aus. Wenn ich noch mal Albumseiten rückwärts blättere, dann ersehne ich gleich wieder mein Groß- und Älterwerden. Wenn ich mich so sehe, weiß ich manchmal nicht, was los ist, den kurzen Hosen entwachsen!
Zweimal ein spitzer Klack. Die erahnte Bewegung vor mir wird bestätigt, sobald die Fusion meiner schweifenden Augen, die Wand entlang nach weiter oben, an der Treppenwende zustande kommt. Möglicherweise aus lauter Vorsorge fasst die junge Frau gerade die Metallbeschläge ihrer Schuhabsätze ins Auge. Der begrenzende schlecht beleuchtete Treppenschacht des Gebäudes entwirft unsere Konturen wie verräterische Mystik. Als Mann möchte ich mich deshalb auf einmal neben die Frau katapultieren, die so schöne.
Hochfliegen können, mich waagerecht haltend im Flug, in genaue Blickrichtung drehen, die Kamera zum Standfoto anhalten und kreuzende Bewegungsrichtungen zwischen uns ohne Ton möglichst verewigen. Denn an stille Bilder erinnere ich mich sicher. Und keine grellen Farben. Dazu etwa den modrigen Geruch alter Treppenhäuser in die Erinnerung zaubern. Das könnte lohnen. Nicht erschrecken beim Klacken der Metallabsätze als gefundene Satzzeichen für Erzählungen, und für Anlässe, meine Bilder wieder sinken zu lassen ins ruhige Erinnerungsland, das immer auch schmerzlich war. Über die Traditionen des Schnitzens, Häkelns und Klöppelns hinaus die orientalischen Sehnsüchte atmen.
Je älter ich werde, umso kälter, kritischer, viel weiter erfasse ich bestimmt die Mängel einer Frau, und nicht nur meine. Vielleicht ihre quadratische Schuhgröße, lose Strumpfmaschen, ihren Hintern, den Männer lieben. Die Lust der Erinnerung lässt nach wie der zu erkennende Urlaubssonnenbrand dieser Frau an Armen und Beinen, deren Haut bald der abgeblätterten Oberfläche der Körper griechischer Statuen gleicht, die vielleicht eben noch von ihr besichtigt worden sind. Der voluminöse Holzpfosten da oben. Das Stativ könnte bald wieder verstellt werden auf Formen der deutschen Eiche hin und all der Barockschnörkel am Pfosten und Geländer. Was wünscht man weiter, als selber erkannt zu werden, nicht nur für einen Schwenk in die Gegenwart? Und doch, je näher mir die Beobachtete kommt, umso größer die Gefahr, dass ich rot im Gesicht werde, stottere vor Gefühlen.
Am besten wäre schon, in einer Zwischenzeit das zu erleben, was einem Jungen nebenbei so zufällt, der sich für entwicklungsfähig, sozusagen für vielversprechend hält.
Aber manchmal müsste er doch weit ausholen, es wäre großartig. Dann in die Zukunft vordringen und irgendwo unsicher ankommen, in gläubiger Ungewissheit durch die blauen Nebel dringen: das wäre doch abenteuerlich. Aber immer noch fühlt er sich nicht stark genug, zu sehr am Rande des Geschehens. Einmal sicher werden, abtasten, sich einfühlen, auskundschaften, herumphantasieren zwischen Ordnungen des Alltags, den Prinzipien - das möchte ich gerne, seit ich lebe, damit sich der Kamera eines Augenpaares etwas bietet, was sich ins Unbewusste eingraben möchte auf Gräbern, in denen später ein Porzellantoter stolz lagert, mitten in Blumen aus Immergrün: der Unvergessenen, dem Unverstandenen, weit weg von den längst zahlreich in der Wiese versteckten Toten.
Der Hintergrund hier stört kaum meine Rückblende. Der Putz an der Wand, die Kosmetik des Treppenhauses, blitzblank. Ein modriger Vergangenheitszauber, gefolgt von Wünschen, die nicht auf einen Schritt, kaum nur für einen kurzen Satz deutlich werden. Wie kleidet sie sich zum Beispiel? Kann es sein, dass es eine Erfahrung gibt, die Klugheit schafft, um mehr zu wissen. (Was für Verkleidung für die Märkte wichtig ist, unter der vielleicht die Rundungen der Frauen gerade richtig für Männeraugen daherkämen. Was für Pfennigabsätze, die ihre entwickelte Wadenpartie konturieren - und meine Hand mit den kurzen, sicher kräftigen Fingern, die mich gegen die Wand abstützen, teils, um den Rahmen lässig zu überspielen, aus statischen Gründen, wer weiß).
Zunächst sagen aus der Kopf und die Beine und die verbindenden Gesten. Auch die unregelmäßigeren Gesichtszüge - ihr Busen ginge mir wohl sehr nahe. Das alles reißt mich hin, sicher, sonst sähe ich die Nähe zu >>billiger Konfektion<< in bunten Journalen. Das Wesentliche, in dem ich lese, wenn ich es jemals treffe, wenn ich’s wie richtige Kritiker aufmerksam durchschaue und endlich erkenne, soll für mich erst dann das liebevoll Beachtete sein, wenn ich sicherer bin und bei mir selbst angelangt. Der Rest des Wahrgenommenen, all die Stoffreste um den Leib, die ganze Mimik, sind zwar da, aber ich würde das alles so gern vergessen. Warum ist das Leben so voller Themen und Probleme? Ist ein sorgenfreies Leben im Paradies möglich?
Nicht nur von Idealen umgeben ausschwärmen zum anderen Geschlecht hin, mein Gott, das war so erwünscht, fast freigegeben. Eh ich‘s vertrödelte: in Kommunion- und Konfirmandenstunden, da war man (umgeben von harten Bandagen um die göttlichen Geheimnisse) guterzogen für die Freiheit beschnitten worden. Mist, Scheiße sagen wagen. Daraus wurde noch lange nicht das reife, gesunde, hygienische, in all den widersprüchlichen Reibungen so aufregende Leben.
Auf der Treppe einmal zum Postamt hatte das blonde Mädchen freundlich grinsend gestanden, hatte sich ans Geländer gelehnt, als ich dort hinuntergehen wollte. Versperrte mir so groß wie sie schon war den Weg, hinderte mich die Treppen abwärts, lächelnd >>interessiert<< die Arme ausgebreitet, das Mädel (wie sie früher sagten), fasste mich irgendwie am Arm, oje, ich wusste mir nicht zu helfen. Es war vormittags an einem Wochentag, in einer (sächsischen) Kleinstadt, die mal den Namen eines berühmten Sozialisten trug. Und es befreite mich erst, als meine Mutter aus der Post kam und das heillose Abenteuer abrupt beendete, in dem ich mich befand.