WENN DER SPIEGEL BLIND BLEIBT
von
Hannelore Kleinschmid
Für meine Kinder
„Es ist gut, wenn unsere Mütter nicht da sind, die Mütter mit den ungläubig forschenden Augen, die traurig sind und weinen müssen, strenge und fürchterlich und dennoch traurig, unsere armen Mütter, die nichts verstehen und schelten und vor denen wir lügen müssen. Wir brauchen niemandem Bericht zu erstatten, und keine Furcht ist in uns vor dem Zwang zur Lüge und keine um ihre Entdeckung.“
Joseph Roth
„DER BLINDE SPIEGEL“
„Ich wollte nicht bloß, dass meine Mutter mir glaubte, wenn ich unschuldig war – was sie nie tat -, sondern ich wollte, dass sie hinter mir stand, wenn ich schuldig war.“
Lucia Berlin
„Stille“
Hör mal gut zu, Winny! Es war einmal ....
Es waren einmal ein Mann und eine Frau. Sie hießen Benno und Beate und wünschten sich ein Kind. Sie dachten und sagten: Wir wünschen uns ein Kind. Wir wollen eine richtige Familie sein.
So sehr wünschten sie es, dass sie jeden Tag von dem großen Wunsch erzählten. Immer wieder. Lange Zeit.
Und dann endlich sahen sie einen kleinen Jungen mit riesengroßen dunkelbraunen Augen, die sie anguckten.
Alle beide dachten zur selben Zeit: Das ist unser Sohn.
Das sagten sie alle beide: Das ist unser Sohn.
Da der kleine Winny Mama und Papa suchte und brauchte, nahmen sie ihn in die Arme und gaben ihm viele Küsschen und zum guten Schluss einen ganz dicken Kuss.
Sie erkannten, dass sie von nun an eine Familie sein und bleiben würden, ein Leben lang.
So ist das gewesen, Winny, als du als kleines Baby zu uns gekommen bist. Man nennt das übrigens Adoption.
Und später kam noch deine kleine Schwester in die Familie, die Jana.
So klingt die Gute-Nacht-Geschichte für den Dreijährigen, die wie alle Gute-Nacht-Geschichten sehr oft wiederholt wird. Ganz wie es die Sozialarbeiterin empfohlen hatte für Familien mit einem farbigen Adoptivkind.
I. Teil: Der andere Weg
Neben dem bunt geblümten, abgetretenen Teppichboden sitzt er auf seinem Windelpaket. Mittelblonde lockige Haare, riesige, fast schwarze Augen, die interessiert alles ringsum verfolgen. Er macht nicht den Eindruck, als sei er zurückgeblieben, wie in seiner Akte vermerkt ist. Mit 13 Monaten läuft er jedoch noch nicht, sondern rutscht auf dem Po hinter dem geliebten Ball hinterher.
Mrs. Keen erklärt nachdrücklich: There is nothing wrong with that boy. Sie fügt hinzu, sie sei nicht erst seit gestern Pflegemutter und kenne sich aus mit Kindern. Schließlich habe sie vier eigene Töchter großgezogen. If you know, what I mean!
Sie wiederholt: There is nothing wrong, there is. Also alles in Ordnung!
Winston wurde zwei Monate zu früh geboren, nicht einmal vier Pfund schwer, nur 30 Zentimeter lang. Mutterseelenallein lag das Frühchen im Krankenhaus, denn es wurde schon vorab zur Adoption freigegeben.
In der Akte ist vermerkt, das Baby habe sich sechs Wochen lang im Ventilator befunden. Kein Wunder also, sagte Benno Jahre später und meinte es nicht ernst. Die missglückte Wahl eines Fremdworts. Der Inkubator war gemeint.
Beate und Benno waren 1968 ein Jahr verheiratet, als Beate schwanger wurde. Beide wünschten sich ein Kind, obwohl sie nicht wussten, wie das gehen sollte, ein Baby zu betreuen und arbeiten zu gehen. Doch auch andere Leute bekamen Kinder. Sie waren im richtigen Alter, um eine Familie zu gründen.
Lydia kam zur Welt und war todkrank. Die Ärzte suchten einige Tage lang nach der Diagnose, bis sie wussten, dass das Kind „nicht lebensfähig“ sein werde. Aber sie wussten nicht genau, wie lange es mit medizinischer Hilfe würde leben können. Vermutlich einige Wochen oder Monate.
Es wurden eineinhalb Jahre. Ohne Hoffnung auf Überleben oder gar Gesundheit. Benno und Beate kümmerten sich um ihr Kind. Sie suchten Trost beieinander und in einer Geschichte aus der Zukunft, die sie sich immer wieder erzählten. Das heißt: Beate erzählte, und Benno nickte zustimmend. Es war wie ein Versprechen: Wir werden einem Kind, das schon auf der Welt ist, ein Zuhause geben. Wir werden ein Kind adoptieren, unabhängig von eigenen Kindern, egal ob Junge oder Mädchen, egal welche Hautfarbe. Es darf auch kariert sein, Hauptsache es ist gesund.
Wenn wir dem Kind ein liebevolles Zuhause geben, wird es ein glücklicher und zufriedener Mensch werden. So dachten sie in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts wie viele ihrer Generation.
Im Jahr 1973 sitzt Winston vor ihnen und schaut sie an: erstaunt, ernsthaft, die Andeutung einer skeptischen Falte zwischen den Augenbrauen. Entgegen ihrem ersten Eindruck und dem spontanen Gefühl zögern die beiden, die Eltern werden wollen. Ein wenig jedenfalls.
Sie haben gegenüber der Adoptionsgesellschaft nur den einen Wunsch geäußert: Ihr Kind soll gesund sein.
Von dem kleinen Jungen aber heißt es, er sei rather retarded, ziemlich zurückgeblieben. Ist er womöglich geistig behindert, trügt sein lebhafter Blick?
Winston wurde der Sohn von Beate und Benno Grimm.
Es geschah nicht über einen kurzen Weg, sondern dauerte länger als eine Schwangerschaft. Am Anfang stand eine Zeitungsannonce, in der Mitarbeiter für den Deutschen Dienst der BBC in London gesucht wurden. Sie bewarben sich und wurden alle beide genommen. So zog das Paar beglückt nach London, für mindestens drei Jahre.
Nachdem sich beide eingearbeitet und eingelebt hatten und ihr unzureichendes Englisch sich in stockenden Sprachgebrauch wandelte, redete Beate häufiger von der Adoption:
Vielleicht sind wir es Lydia schuldig, wir könnten doch ein Kind glücklich machen, das ansonsten womöglich von einem Heim zum anderen wandern würde. Ohne feste Bezugspersonen, ohne Eltern.
In London hatten sie den damals einzigen Spezialisten weltweit aufgesucht, der sich mit der seltenen angeborenen Missbildung an der Galle auskannte, die bei Lydia aufgetreten war. Er machte ihnen deutlich, dass sie ihr Schicksal nicht herausfordern sollten.
Er sagte: Ich weiß noch nicht, ob es eine erbliche Variante gibt. Aber das könnte durchaus der Fall sein, und so wäre es vernünftig, wenn Sie, sollten Sie zwei gesunde Kinder haben, es dabei beließen.
Eines Tages begannen die beiden Grimms damit, herauszufinden, wie man in London ein Kind adoptiert.
In jener Zeit suchte der Mensch im Telefonbuch nach bestimmten Institutionen, Adressen oder Telefonnummern. Das Londoner Telefonbuch bestand aus mehreren dickleibigen Bänden.
Oder der Mensch rief beim zuständigen städtischen Amt an oder verfasste ein Schreiben.
Beate entdeckte eine zentrale Anlaufstelle für Adoptionswillige.
In der Antwort auf ihren Brief hieß es, die meisten Adoptionsgesellschaften hätten lange Wartelisten und würden vorläufig keine Bewerber annehmen. Bei farbigen Jungen gäbe es jedoch noch Chancen, wenn man Geduld bewies. Aber – und damit tat sich das nächste Problem auf – die Paare müssten zunächst nachweisen, unfruchtbar zu sein. Mit einem ärztlichen Attest.
Auch wenn Benno kurz zuvor auf äußerst schmerzhafte Weise die Kinderkrankheit Mumps durchlitten hatte, so konnten seine Spermien, wie eine Untersuchung zeigte, doch weiterhin ihr Ziel finden. Waren Beate und er am Ende ihres Traums?
Wie kann man Unfruchtbarkeit nachweisen?
Beate wollte nicht einfach so aufgeben und schrieb an die zuständige Abteilung der Universitätsklinik. In umständlichem Englisch erklärte sie, warum Benno und sie unbedingt ein Kind adoptieren wollten und Hilfe benötigten. Zur Antwort bekam sie den Termin für eine Untersuchung.