Helmut Lauschke
Tag und Nacht
Erfahrungen und Erkenntnisse in Namibia
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Inhaltsverzeichnis
Hinter jedem Schritt ist ein anderer Schatten
Der Tod kennt weder Rosen noch Küsse
Von erschöpften Helden und nagenden Ratten
Der Wettlauf zwischen Schweigen und Reden ist noch nicht entschieden
Die Schattengesichter der nächtlichen Razzien
Vom Abtrennen der Gliedmaßen und das ‘schwarze’ Omen
Von politischen Kurven und Verdrehungen
Andere Gesichter und eine andere Atmosphäre
Was leere Kleiderhaken noch erzählen
Hinter jedem Schritt ist ein anderer Schatten
Erfahrungen und Erkenntnisse in Namibia
Wenn die Hähne krähen, ist der Traum vorüber.
Das höchste Gut ist der Wille zur Vernunft,
wenn vernünftiges Denken das Tun mit einschließt.
Baruch de Spinoza (1632-1677)
Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.
Immanuel Kant (1724-1804)
In Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung (1784)
Gewissen ist das Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes
im Menschen.
Immanuel Kant
Die Gegenwart schiebt einen Tag vor den andern. Aus jedem Morgen hebt sie sich der Tag wie ein junges Mädchen heraus und sinkt wie eine alte, gebrochene Frau in die Abenddämmerung zurück. Ein Kommen und Gehen, das sich vorwärts im stufenauf und ab in die Zukunft hinein schiebt. Es schiebt sich immer tiefer hinein, wobei sich Zukunft immer weiter entschält oder wie ein gekochtes Ei entpellt. Am Koppel hängen nicht nur die Geräte, sondern auch die Gefühle und Gedanken von gestern. Deshalb Vorsicht beim Abkoppeln der Vergangenheit. Auch dann, wenn man meint, dass es ohne Gegenwart keine Vergangenheit gibt. Das ist der Traum dann, wenn dem verängstigten Gemüt qualvoll die Dinge mit unverrückbarer Zerstörungsabsicht auf den Fersen folgen. Oft geht es nicht schnell genug. Gerade dann purzeln die unaufgeräumten Dinge und alles, was sich einfach nicht wegräumen oder vergessen lässt, in das Durcheinander von heute. Oft sind Tast- und Riechsinn irritiert, dass man nicht weiß, was man in den Händen hält und aus dem Wust hervorzieht oder was sich schlierig oder sonstwie gewunden dahinter noch versteckt. Die Augenschatten schwimmen hin und her. Sie verwischen die Aktionen des Koppelns und Abkoppelns nach hinten mit dem Hineinschieben nach vorn, wenn die hängenden Dinge am Koppel sich im Nebel dem erwachenden und übrigen Tagesbewusstsein entziehen.
Wenn die Sprache mit dem Tag neu erwacht, sich mit neuen Varianten durch den Tag windet und in nächtlicher Ermüdung schließlich erschlafft und einschläft, ist doch die erste große Sprachverschiebung nicht zu überhören, die an der Schwelle von der Kindheit zur Jugend stattfindet. Denn die Bezugsverbindung von Wort und Ding, dass Dinge so sind und heißen, wie sie genannt werden, findet an jener Schwelle die erste Veränderung durch das Hinzusetzen eines genauer beschreibenden Beiwortes oder durch ein ganz anderes Wort, das für das Kind unverständlich und unaussprechbar ist. Der Bezugskreis zwischen Ding und Wort, der für das Kind selbstverständlich, heil und geschlossen ist, bricht durch das Gesetz der revoltierenden Querstellung an der Jugenschwelle auf, wo er im bewussteren Erleben größerer Höhen und Weiten die Ursache der tieferen Gründlichkeit mit der ballernden Dickköpfigkeit und dem klopfenden Kopfschmerz wird. Mit der wachsenden Genauigkeit im Trachten und Betrachten sowie im Zugriff nach den Dingen machen sich aber auch die Lücken und die unerklärlichen Verstrebungen im Bewusstsein bemerkbar, was zu immer neuen Fragen führt. Der Kopfschmerz wird um so heftiger, je stärker sich der Dickkopf zwischen die Schultern setzt. Das trifft auf die Augenschatten zu, wenn dort Schatten ist, wo das Licht sein sollte, und dort das Licht ist, wo es nichts zu sehen gibt.
Wörter werden Liebeswörter, wenn sie zwischen Menschen gesprochen werden, die sich lieben und um die Gegenseitigkeit der Liebe sich bemühen, weil in der Liebe einer auf den andern angewiesen ist. Wörter werden Arbeitswörter, wenn Menschen etwas zusammen tun, die aufeinander angewiesen sind. Es war kein Abenteuer, als ich fünfzigjährig mit leeren Taschen auf dem andern Kontinent ankam, der auch der Kontinent der Armen oder der schwarze Kontinent genannt wird. Das Wort ‘Morgenteuer’ trifft zumindest ebenso zu, weil ich weder eine Arbeitserlaubnis noch das Geld hatte für die Scheibe Brot mit dünnstem Aufstrich und die Tasse Kaffee, die ich dringend brauchte. Es war ein Freund, ein musikalischer dazu, der mir das Ess- und Trinkbare sowie ein Bett in einem mit Kartons vollgestellten Kabinett anbot. Sein Kalmieren bestand im Wesentlichen aus dem Verständnis für die Schräglagen in der Lebensmitte eines Menschen, ob gewollt oder ungewollt. Seine ungewöhnlich herzliche Großzügigkeit mündete in die Tagesparole: Es ist alles nicht so schlimm.
Bis zum Eintreffen der auf ein Jahr befristeten und örtlich auf das Hospital begrenzten Arbeitserlaubnis und unter Nichtanerkennung des deutschen Facharztzertifikats vergingen Wochen trotz der Erinnerungen per Telefon durch den amtierenden Superintendenten, der dieser großzügige Mensch war, aus dem hohen Norden des damaligen Südwest-Afrika nach Pretoria in Südafrika, dem Stellwerk der weißen Apartheid. Das Hospital war umringt vom Krieg, der tief bis Angola hinauf reichte. In der Wartezeit, die mit den Gewichten der Ungewissheit und der existentiellen Unsicherheit und Angst beschwert war, gab es die täglichen Wettläufe und die nächtlichen Wettkämpfe zwischen den Worten und den Füßen. Weil die Hände leer waren und nicht mit den für die Patienten im Hospital dringendst gebotenen Handgriffen in Aktion treten konnten, blieb es dem Wissen mit dem Unwissen vorbehalten, sich mit der Verzögerung, seiner tieferen Bedeutung und den sich daraus ableitbaren Schikanen schon theoretisch zu befassen, die dann auch in der Praxis zu erwarten