Sonnenfinsternis. Ulrich Pätzold. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrich Pätzold
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752926484
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      Ulrich Pätzold

      Sonnenfinsternis

      Im Hinterhof der Politik

      Dieses ebook wurde erstellt bei

      

      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       Intro

       Große und kleine Zeichen

       Dämonie

       Unverstanden in einem verlierenden Land

       Die Mania

       Das wankende Haus in der Politik

       Entfremdung in der Heimat

       Schatten der Macht – die Gewalt

       Anfang und Ende des Dritten Weges

       Begleitung ins Aus

       Werden und Sein

       Jenseits der Politik

       Über den Autor

       Impressum neobooks

      Intro

      Niccoló Machiavelli (1519)

      „Es ist unmöglich, einem Mann, dem durch seine Art zu verfahren viel geglückt ist, zu überzeugen, er könne gut daran tun, anders zu verfahren. Daher kommt es, dass das Glück eines Mannes wechselt, denn die Zeiten wechseln, er aber wechselt nicht sein Verfahren.“

      Gustave Flaubert (1857)

      „Des Menschen Wort ist wie eine gesprungene Pauke, auf der wir eine Melodie heraustrommeln, nach der kaum ein Bär tanzt, während wir die Sterne bewegen möchten.“

      Große und kleine Zeichen

      M hatte in der Nacht vom 19. auf den 20. März 2015 sehr schlecht geschlafen. Genau genommen hatte er seiner Meinung nach überhaupt nicht geschlafen. Um 7.00 Uhr morgens war sein Gemütszustand so zerrüttet, dass er reichlich viele Tabletten der Marke Vivinox schluckte, um schnell und tief in einen traumlosen Schlaf zu fallen. Er hatte panische Angst vor den kommenden Stunden. Die wichtigsten Tage der Sitzungswoche im Bundestag waren gelaufen. Es war Freitag, ein Plenumstag zwar, aber auch der Tag, an dem die meisten mit gepackten Reisetrollis ins Parlament kamen, um es am Nachmittag zur Abreise in ihre Wahlkreise verlassen zu können.

      Am 20. März lag über Mitteleuropa ein kräftiges Hoch. Am Vormittag gab es keine Wolken über dem Himmel von Berlin. Mit viel Sonne war eine freundliche Frühlingswoche angebrochen. Auf den Bürgersteigen war mit dem hellen Licht zunehmend Betriebsamkeit und buntes Leben zurückgekehrt. Obwohl die Luft noch kühl war, füllten sich schon am Morgen die Tische auf den breiten Bürgersteigen mit Gästen. Sie blinzelten den wärmenden Sonnenstrahlen des Himmels entgegen und erprobten die ersten Versuche gelassener Freundlichkeit im aufziehenden Frühsommer, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken oder verspielt ihre individuelle Korrespondenz mit dem Allgemeinen, Hellen und Schönen zu pflegen. So startete der Tag gelassen heiter, wärmend und sonnig. Es war ein normaler Freitagmorgen in Berlin, der allerdings mit der Zeit immer ruhiger, aber auch angespannter zu werden schien.

      Der Glockenschlag halb zehn fiel kurz und trocken in das Karree rund um den Karl-August-Platz in Charlottenburg. Da lag M in tiefem Schlaf. In dieser Zeit fand ein prächtiges Schauspiel statt, eine nicht totale, aber kräftige Sonnenfinsternis, in der sich der Mond zwischen Sonne und Erde schiebt. Vollständig dunkel wurde es in Berlin also nicht. Aber für eine zwielichtige Dämmerung reichte es, die sich kontrastierend in den hellen Tagesbeginn schob. Der Mond erreichte eine Überdeckung des Sonnenballs von ungefähr 74 Prozent, immer noch genug, um das Schauspiel nicht ignorieren zu können und ausreichend für die eindringliche Warnung, ohne Schutzbrille der Versuchung zu widerstehen, in die Restsichel der Sonne an dem sich verdunkelnden Himmel zu blinzeln. In den Genuss solcher die Augen schützenden Brillen waren nur Wenige gekommen. Der Markt hatte vollständig versagt. Kurz vor diesem Tag war die Nachfrage für diese kleinen Helfer, die einem ermöglichen, eine Sonnenfinsternis zu beobachten, rasant gestiegen. Doch da waren die Regale bereits leer. Es gab keinen Nachschub. Mit so vielen Kaufwilligen hatte keiner auf den Märkten gerechnet, obgleich das Ereignis doch schon lange bekannt war.

      Um 9.38 Uhr hatte der Mond den äußeren Rand der Sonne berührt. Nun schob er sich Stück für Stück als schwarzes Loch in den Feuerball. Langsam wurde es dämmrig. Der Scheitelpunkt für den Nachtschatten wurde um 10.47 Uhr erreicht. Da lag nur noch das düstere Licht über der Stadt, in der die Schatten wie von einer zu schwachen Laterne geworfen wurden. Die Glocke schlug ihre Viertelstunden nun voller in die Stille. Zwischen 10.30 und 11.30 Uhr blieben die städtischen Geräusche eines geschäftigen Tages sehr gedämpft. Auch die Spatzen hatten aufgehört zu zwitschern. Lediglich Hundegebell war zu hören. Die Hunde meldeten sich aus allen Richtungen. Doch das erholte sich alles so schnell, wie es gekommen war. Bald war die Stadt wieder bei sich selbst. Um 11.58 Uhr verließ der Mond die Sonne. Sogar das Stromnetz hatte gehalten. In den zwei Stunden mussten riesige Schwankungen großer Voltmengen verkraftet werden, die kurzzeitig nicht verfügbar waren, dann aber ebenso plötzlich wieder mit voller Leistung in die Netze fluteten. Die Experten und Strommanager hatten mit ihrer Angst im Vorfeld der Sonnenfinsternis nicht hinter dem Berg gehalten. Sie bewerteten das Ereignis als größten Crashtest für das wachsende System mit den erneuerbaren Energiequellen. Der Test verlief positiv. Es wurden keine nennenswerten Störungen gemeldet.

      M hatte diesen Freitagvormittag tief und fest geschlafen. Er wachte erst gegen 15.00 Uhr wieder auf. Da zogen bereits erste Wolkenschlieren am Himmel auf. Als er durch seine Dachwohnung nahe dem Karl-August-Platz schlurfte, sah er an den großen Fensterscheiben zu seiner Außenterrasse einen schmierigen Fleck auf dem sorgsam gereinigten Glas. Er öffnete die Tür zur Terrasse und sah eine Taube tot auf den Holzdielen liegen. Der Anblick erschreckte M zutiefst. Mit festem Griff zog er die Tür zu, holte das Telefon und bestellte seinen Fensterputzer. Der kam am folgenden Montagnachmittag, beseitigte die Taube und reinigte das Fenster. Erst danach kehrte M in seine Wohnung zurück, die er bereits am Nachmittag des Tages der Sonnenfinsternis panikartig verlassen hatte.

      Der Bundestagsabgeordnete M gehört zu den eher unauffälligen Mitgliedern seiner Fraktion. In den Plenarsitzungen mit vollem Haus, wie sie nur selten stattfinden, sitzt er in der siebten Reihe ziemlich in der Mitte. In den Sitzungswochen bleibt er meistens auf Abruf in seinem Büro, eilt dann stets pünktlich zu den Abstimmungen in den großen Saal, wenn er gebraucht wird. Nur wenn Vorlagen verhandelt werden, an denen der Ausschuss beteiligt wird, in dem er Mitglied ist, sitzt er dann inmitten der meistens kleinen Schar im Plenum, sogar weit vorne. Im Bundestagsfernsehen, das eigens für diese große Einrichtung hergestellt wird, kann man ihn bei solchen Sitzungen manchmal sehen. In seinem Büro