Die Wahlverwandtschaften. Johann Wolfgang von Goethe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johann Wolfgang von Goethe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754179512
Скачать книгу
wurde, wieviel Zeit ihr übrigblieb, bat sie Charlotten, ihre Stunden einteilen zu dürfen, die nun genau beobachtet wurden.

      Sie arbeitete das Vorgesetzte auf eine Art, von der Charlotte durch den Gehülfen unterrichtet war.

      Man ließ sie gewähren.

      Nur zuweilen suchte Charlotte sie anzuregen.

      So schob sie ihr manchmal abgeschriebene Federn unter, um sie auf einen freieren Zug der Handschrift zu leiten; aber auch diese waren bald wieder scharf geschnitten.

      Die Frauenzimmer hatten untereinander festgesetzt, französisch zu reden, wenn sie allein wären, und Charlotte beharrte um so mehr dabei, als Ottilie gesprächiger in der fremden Sprache war, indem man ihr die Übung derselben zur Pflicht gemacht hatte.

      Hier sagte sie oft mehr, als sie zu wollen schien.

      Besonders ergetzte sich Charlotte an einer zufälligen, zwar genauen, aber doch liebevollen Schilderung der ganzen Pensionsanstalt.

      Ottilie ward ihr eine liebe Gesellschafterin, und sie hoffte, dereinst an ihr eine zuverlässige Freundin zu finden.

      Charlotte nahm indes die älteren Papiere wieder vor, die sich auf Ottilien bezogen, um sich in Erinnerung zu bringen, was die Vorsteherin, was der Gehülfe über das gute Kind geurteilt, um es mit ihrer Persönlichkeit selbst zu vergleichen.

      Denn Charlotte war der Meinung, man könne nicht geschwind genug mit dem Charakter der Menschen bekannt werden, mit denen man zu leben hat, um zu wissen, was sich von ihnen erwarten, was sich an ihnen bilden läßt, oder was man ihnen ein für allemal zugestehen und verzeihen muß.

      Sie fand zwar bei dieser Untersuchung nichts Neues, aber manches Bekannte ward ihr bedeutender und auffallender.

      So konnte ihr zum Beispiel Ottiliens Mäßigkeit im Essen und Trinken wirklich Sorge machen.

      Das Nächste, was die Frauen beschäftigte, war der Anzug.

      Charlotte verlangte von Ottilien, sie solle in Kleidern reicher und mehr ausgesucht erscheinen.

      Sogleich schnitt das gute, tätige Kind die ihr früher geschenkten Stoffe selbst zu und wußte sie sich mit geringer Beihülfe anderer schnell und höchst zierlich anzupassen.

      Die neuen, modischen Gewänder erhöhten ihre Gestalt; denn indem das Angenehme einer Person sich auch über ihre Hülle verbreitet, so glaubt man sie immer wieder von neuem und anmutiger zu sehen, wenn sie ihre Eigenschaften einer neuen Umgebung mitteilt.

      Dadurch ward sie den Männern, wie von Anfang so immer mehr, daß wir es nur mit dem rechten Namen nennen, ein wahrer Augentrost.

      Denn wenn der Smaragd durch seine herrliche Farbe dem Gesicht wohltut, ja sogar einige Heilkraft an diesem edlen Sinn ausübt, so wirkt die menschliche Schönheit noch mit weit größerer Gewalt auf den äußern und innern Sinn.

      Wer sie erblickt, den kann nichts Übles anwehen; er fühlt sich mit sich selbst und mit der Welt in Übereinstimmung.

      Auf manche Weise hatte daher die Gesellschaft durch Ottiliens Ankunft gewonnen.

      Die beiden Freunde hielten regelmäßiger die Stunden, ja die Minuten der Zusammenkünfte.

      Sie ließen weder zum Essen, noch zum Tee, noch zum Spaziergang länger als billig auf sich warten.

      Sie eilten, besonders abends, nicht so bald von Tische weg. Charlotte bemerkte das wohl und ließ beide nicht unbeobachtet. Sie suchte zu erforschen, ob einer vor dem andern hiezu den Anlaß gäbe; aber sie konnte keinen Unterschied bemerken.

      Beide zeigten sich überhaupt geselliger.

      Bei ihren Unterhaltungen schienen sie zu bedenken, was Ottiliens Teilnahme zu erregen geeignet sein möchte, was ihren Einsichten, ihren übrigen Kenntnissen gemäß wäre.

      Beim Lesen und Erzählen hielten sie inne, bis sie wiederkam. Sie wurden milder und im ganzen mitteilender.

      In Erwiderung dagegen wuchs die Dienstbeflissenheit Ottiliens mit jedem Tage.

      Je mehr sie das Haus, die Menschen, die Verhältnisse kennenlernte, desto lebhafter griff sie ein, desto schneller verstand sie jeden Blicke, jede Bewegung, ein halbes Wort, einen Laut.

      Ihre ruhige Aufmerksamkeit blieb sich immer gleich, so wie ihre gelassene Regsamkeit.

      Und so war ihr Sitzen, Aufstehen, Gehen, Kommen, Holen, Bringen, Wiederniedersitzen ohne einen Schein von Unruhe, ein ewiger Wechsel, eine ewige angenehme Bewegung.

      Dazu kam, daß man sie nicht gehen hörte; so leise trat sie auf.

      Diese anständige Dienstfertigkeit Ottiliens machte Charlotten viele Freude.

      Ein einziges, was ihr nicht ganz angemessen vorkam, verbarg sie Ottilien nicht.

      »Es gehört«, sagte sie eines Tages zu ihr, »unter die lobenswürdigen Aufmerksamkeiten, daß wir uns schnell bücken, wenn jemand etwas aus der Hand fallen läßt, und es eilig aufzuheben suchen.

      Wir bekennen uns dadurch ihm gleichsam dienstpflichtig; nur ist in der größern Welt dabei zu bedenken, wenn man eine solche Ergebenheit bezeigt.

      Gegen Frauen will ich dir darüber keine Gesetze vorschreiben. Du bist jung.

      Gegen Höhere und Ältere ist es Schuldigkeit, gegen deinesgleichen Artigkeit, gegen Jüngere und Niedere zeigt man sich dadurch menschlich und gut; nur will es einem Frauenzimmer nicht wohl geziemen, sich Männern auf diese Weise ergeben und dienstbar zu bezeigen«.

      »Ich will es mir abzugewöhnen suchen«, versetzte Ottilie.

      »Indessen werden Sie mir diese Unschicklichkeit vergeben, wenn ich Ihnen sage, wie ich dazu gekommen bin.

      Man hat uns die Geschichte gelehrt; ich habe nicht soviel daraus behalten, als ich wohl gesollt hätte; denn ich wußte nicht, wozu ichs brauchen würde.

      Nur einzelne Begebenheiten sind mir sehr eindrücklich gewesen, so folgende: als Karl der Erste von England von seinen sogenannten Richtern stand, fiel der goldne Knopf des Stöckchens, das er trug, herunter.

      Gewohnt, daß bei solchen Gelegenheiten sich alles für ihn bemühte, schien er sich umzusehen und zu erwarten, daß ihm jemand auch diesmal den kleinen Dienst erzeigen sollte.

      Es regte sich niemand; er bückte sich selbst, um den Kopf aufzuheben.

      Mir kam das so schmerzlich vor, ich weiß nicht, ob mit Recht, daß ich von jenem Augenblick an niemanden kann etwas aus den Händen fallen sehn, ohne mich darnach zu bücken.

      Da es aber freilich nicht immer schicklich sein mag und ich«, fuhr sie lächelnd fort, »nicht jederzeit meine Geschichte erzählen kann, so will ich mich künftig mehr zurückhalten«.

      Indessen hatten die guten Anstalten, zu denen sich die beiden Freunde berufen fühlten, ununterbrochenen Fortgang.

      Ja täglich fanden sie neuen Anlaß, etwas zu bedenken und zu unternehmen.

      Als sie eines Tages zusammen durch das Dorf gingen, bemerkten sie mißfällig, wie weit es an Ordnung und Reinlichkeit hinter jenen Dörfern zurückstehe, wo die Bewohner durch die Kostbarkeit des Raums auf beides hingewiesen werden.

      »Du erinnerst dich«, sagte der Hauptmann, »wie wir auf unserer Reise durch die Schweiz den Wunsch äußerten, eine ländliche sogenannte Parkanlage recht eigentlich zu verschönern, indem wir ein so gelegnes Dorf nicht zur Schweizer Bauart, sondern zur Schweizer Ordnung und Sauberkeit, welche die Benutzung so sehr befördern, einrichteten«.

      »Hier zum Beispiel«, versetzte Eduard, »ginge das wohl an.

      Der Schloßberg verläuft sich in einen vorspringenden Winkel herunter; das Dorf ist ziemlich regelmäßig im Halbzirkel gegenüber gebaut; dazwischen fließt der Bach, gegen dessen Anschwellen sich der eine mit Steinen, der andere mit Pfählen, wieder einer mit Balken und der Nachbar sodann mit Planken verwahren will, keiner aber den andern fördert, vielmehr sich und den übrigen Schaden und Nachteil